Broschüre „Gibt es Extremismus?“ erschienen

 Im Januar 2010 fand eine Tagung des Bildungswerks Weiterdenken e.V in Dresden mit dem Titel „Gibt es Extremismus? Extremismusansatz und Extremismusbegriff in der Auseinandersetzung mit Neonazismus und (anti)demokratischen Einstellungen“ statt. In der Beschreibung zur Veranstaltung war folgendes zu lesen:

„Um den «Extremisten» in Sachsen enge Grenzen zu setzen, vereinbarte die neue CDU-FDP-Regierung in ihrem Koalitionsvertrag das Versammlungs-gesetz in Sachsen empfindlich einzuschränken. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung solle «gegen die Extremisten von links und rechts» verteidigt werden. Gemeint sind die nazistischen Demonstrationen in Leipzig (vor allem um den 1. Mai) und Dresden (vor allem um den 13. Februar) und die Gegenkundgebungen und Versuche, diese Naziaufmärsche zu behindern oder zu verhindern.
Mit dieser Haltung greift die Staatsregierung auf die Verwendung des Extremismusbegriffes in Sachsen und auf den Extremismusansatz zurück, der in Sachsen von den Politikwissenschaftlern Uwe Backes und Werner Patzelt in Dresden und Eckhard Jesse in Chemnitz vertreten wird. Während der Extremismusansatz in den Sozialwissenschaften wegen seiner Unterkomplexität und den Möglichkeiten einer relativistischen Werturteilsprägung stark kritisiert und überwiegend abgelehnt wird, dominiert er die sächsische Landschaft seit fast 20 Jahren. Der Begriff zieht sich durch die Berichterstattung in den Medien, durch die Diskussionen unter den Vereinen und Verbänden, durch Förderrichtlinien und Stammtische gleichermaßen. Er vereinfacht. Das erleichtert unter Umständen Verständigungen, zumeist verwischt er aber Probleme, überdeckt präzise Analysen, verhindert genaues Handeln, wird er zum Kampfbegriff instrumentalisiert.“

Jetzt ist eine Broschüre unter dem gleichen Titel erschienen, welche sicher für alle interessant ist, welche hier und da Auseinandersetzungen um die Extremismusformel führen müssen bzw. wollen.

Aus der Einleitung

Die Veranstalter der Tagung «Gibt es Extremismus?» einen zunächst zwei Dinge:

Einerseits streben wir eine offene, plurale und demokratische Gesellschaft an, die auf der tiefen Überzeugung der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen beruht und deren Grundrechte anerkennt. Andererseits eint uns die gemeinsame Erfahrung, dass dieses Menschen- und Gesellschaftsbild am deutlichsten von einem Phänomen angegriffen wird, dass wir meistens Rechtsextremismus nennen.

Der Begriff des Extremismus wurde ab 1974 in den Bundesverfassungsschutzberichten verwendet und löste den Begriff des Radikalismus ab. In die Wissenschaft und die Alltagssprache ist er medial verstärkt ab 1980 über die Bundeszentrale und die Landeszentralen für Politische Bildung transportiert worden. Durchgesetzt hat er sich erst in den letzten 20 Jahren.

Als das Kulturbüro Sachsen e.V. im Jahr 2001 seine Mobile Beratungsarbeit zur Stärkung einer aktiven demokratischen Zivilgesellschaft im Freistaat aufnahm, war die Ausgangslage schwierig. Es gab nur wenige, die Nazistrukturen, rassistische Einstellungen oder Übergriffe in Sachsen thematisierten. Was damals in den ländlichen Regionen vorgefunden wurde, waren Problembeschreibungen von Betroffenen oder Menschen, die ihre Situation in ihrer Region als unerträglich beschrieben, was die Präsenz von Neonazis im öffentlichen Raum anbelangt. Von Kommunalpolitiker_innen wurden Beratungsgespräche oft mit der Gretchenfrage eröffnet: Wenn Sie hier bei mir in der Region Rechtsextremismus beschreiben, dann müssen Sie sich auch fragen lassen warum Sie sich dafür interessieren: Kommen sie aus dem linksextremen Spektrum? Damals half eine klare Unterstützung der Arbeit von der Bundesebene, die unsere und die Problemanalyse vieler, dass Sachsen ein Problem mit modernen Nazis, rassistischen, nationalistischen und völkischen Einstellungen habe, teilte. Heute haben wir die Abwehr gegen die Auseinandersetzung mit dem Phänomenbereich nicht mehr in der Schärfe wie 2001. Die Sensibilität zur Behandlung des Themas hat sich in den letzten Jahren erhöht. Der Extremismusbegriff und seine Wirkmächtigkeit sind geblieben. Eine intensive Beratungsarbeit und die gemeinsame Entwicklung lokaler Problemlösungsansätze ist sehr selten möglich, ohne dass von einzelnen Beteiligten aus dem Gemeinderat, den Sportvereinen, der Kirche, der Schule oder anderen darauf verwiesen wird, dass der Linksextremismus im Dorf ebenfalls ein großes Problem darstelle. Die Frage danach, ob bestimmte Arbeitsansätze auch gegen Linksextremismus wirken steht immer wieder auf der Agenda.

In den letzten Jahren hat sich unser Blick geschärft und wir sehen in unserer Analyse, mehrere Ebenen, die unser Demokratie- und Menschenbild in Sachsen gefährden:

» Wir sehen so genannte rechtsextreme Gewalt und meinen Gewalt mit rassistischen Motiven, aus Hass gegen alles Fremde, Andere.

» Wir sehen nazistische Parteien und Organisationen, die Ideologien von Ungleichheit, Unterdrückung und imaginierten homogenen Volksgemeinschaften verbreiten und dafür öffentliche Plattformen suchen und finden.

» Wir sehen eine neonazistische Jugend-Subkultur, die durch eine ganze Reihe von Konzerten, Demonstrationen und anderen «Events» eine scheinbar attraktive Erlebniswelt für junge Menschen schafft.

» Wir sehen in Sachsen eine seit Jahren stabile Unterstützung von Naziparteien durch Wählerinnen und Wähler von ca. 5%. Diese Kontinuität basiert auf einer wenigstens teilweisen ideologischen Unterstützung.

» Und wir sehen nicht zuletzt in Umfragen Einstellungsmuster in allen Schichten und Altersgruppen, die ideologische Bestandteile dieses Phänomens wiedergeben und noch weiter in alle Gesellschaftsschichten hineinreichen:

• Antiparlamentarismus und Ablehnung der Demokratie,

• Relativierung des Wesens und der Verbrechen des Nationalsozialismus,

• Akzeptanz von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung,

• Sozialdarwinismus,

• Sexismus,

• Anstreben homogener Volksgemeinschaften, in denen jede Abweichung beseitigt werden soll und dementsprechend eine

• Feindlichkeit gegenüber Menschengruppen, die als anders oder fremd definiert werden, dazu gehören Antisemitismus, Rassismus, Islamfeindlichkeit, etc.

Der Begriff des Rechtsextremismus sammelt und vereinfacht und verhindert eine Auseinandersetzung mit den Phänomenen.

Er verwischt das Bild zwischen den brutalen Schlägern, den Ideologen im Landtagsplenum und Einstellungen in allen Bevölkerungsgruppen. Er behindert die Abgrenzung der Gewaltstraftat, die von Ermittlungsbehörden verfolgt und juristisch geahndet werden muss und dem rassistischen Stammtischgespräch, dem wir als aufgeklärte und engagierte Demokrat_innen entgegentreten und dies eben gerade als Demokrat_innen auch nicht an Verfassungsschutz oder Polizei delegieren. Er behindert also unser Rollenverständnis und erschwert eine präzise, d.h. auch wirksame Auseinandersetzung. Deutlich wird dies auch in der Diskrepanz zwischen den gestellten Anforderungen und den nicht ausgesprochenen Erwartungen an zivilgesellschaftliche Arbeit, die sich zugespitzt in der Frage wieder findet: «Sie arbeiten doch jetzt schon seit über 10 Jahren in Sachsen und die Leute wählen immer noch die NPD: Wie kommt das denn?» Es ist die Frage nach der Wirksamkeit der Arbeit für eine aktive demokratische Gesellschaft und die Beschreibung der Grenzen zivilgesellschaftlicher Anstrengungen: Ein Problem das die gesamte Gesellschaft betrifft wird an eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe delegiert. Damit ist der Auftraggeber selbst nicht mehr für die Lösung verantwortlich. Stellt die Zivilgesellschaft dann kritische Fragen an die «demokratische Mitte» oder politische Strukturen wird sie auf das zu lösende Problem verwiesen – die extremen Ränder – dort liegt das Arbeitsfeld. Der theoretische Ansatz von Extremismus als Randerscheinung der Gesellschaft verdeckt damit die erschreckend weite Verbreitung von antidemokratischen Einstellungen und ideologischen Versatzstücken in der deutschen Gesellschaft.

Noch unklarer als unter der Sammelbezeichnung des Rechtsextremismus, wird die Beschreibung unter dem Sammelbegriff des «Extremismus» an sich.

Die vermeintliche Gemeinsamkeit zweier Phänomenbereiche, Links- und Rechtsextremismus, setzt nicht vereinbare ideologische Hintergründe einander gleich. Es ist nicht zu leugnen, dass z.B. Autoritarismus sowohl in neonazistischen Parteien als auch in marxistisch-leninistischen Kadergruppen zu finden ist. Auf Grund dieser Tatsachen von gemeinsamen Merkmalen des Links- und Rechtsextremismus zu sprechen ist unserer Ansicht nach jedoch verkürzt. Das Konzept stößt an dieser Stelle bereits an seine Grenzen, wenn man anarchistische Strömungen in die Betrachtung einbezieht. Noch schwieriger wird es, wenn man autoritäre Strukturen und Einstellungsmuster vermeintlich demokratischer Parteien und Zusammenhänge thematisiert. Ähnlich verhält es sich mit anderen «gemeinsamen Merkmalen des Extremismus», wie dem Anhängen an Verschwörungstheorien, Utopismus oder Absolutheitsanspruch. Diese sind in vielen gesellschaftlichen Gruppen, wie auch in der «demokratischen Mehrheitsgesellschaft» zu finden, so dass eine Fixierung auf die «Ränder der Gesellschaft» mehr als abwegig erscheint.

Der Extremismusansatz verschleiert die Gewaltorientierung von nazistischen Organisationen und Gruppen unter dem Zerrbild der Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Jugendgruppen. Er verunklart die Relevanz verschiedener antidemokratischer Einstellungen. Er trübt den Blick für die wirkliche Gefährdung für die demokratische Alltagskultur und staatliche Ordnung und behindert die Auseinandersetzung mit antidemokratischen und menschenfeindlichen Einstellungen mehr als er hilft. Es gibt keine wirkungsvollen zivilgesellschaftlichen Konzepte gegen Extremismus, aber sehr wohl gangbare Wege, um Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus oder Sexismus zurück zu drängen. Um die demokratische Gesellschaft gegen ihre Bedrohungen stark zu machen ist es unserer Einschätzung nach notwendig, diese Bedrohungen klar zu definieren, statt sie unter dem Sammelbegriff des Extremismus zu verschleiern.

Der vom Extremismus-Konzept abgeleitete Begriff des «Ausländerextremismus», den offensichtlich nur die Verfassungsschutzbehörden benutzen, zeigt auf zu welcher Verwirrung dieser Ansatz führt. Der Versuch einer Differenzierung zwischen den ideologischen, religiösen oder politischen Motivationen, die hinter demokratiefeindlichen Bestrebungen stehen können, wird bei einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Gruppe – hier «die Ausländer» – vollständig aufgegeben und jede Bestrebung dieser Gruppe, egal wie unterschiedlich sie auch immer sein mögen, in einen Topf geworfen. Die Konstruktion des Begriffs des «Ausländerextremismus» halten wir nicht nur für absurd, sondern auch für gefährlich. Hier werden ausgrenzende Mechanismen vom Staat selbst reproduziert.

Wir wollten gerade auch als sächsische Einrichtungen diese Debatte führen, weil der Begriff aus der Politikwissenschaft in Sachsen – also insbesondere den Politikwissenschaftlern Uwe Backes und Werner Patzelt in Dresden und Eckhard Jesse in Chemnitz immer wieder theoretisch begründet und in die politische Diskussion eingeführt wird.

Der Begriff «Extremismus» ist für eine wirksame Arbeit für demokratische Kultur in Sachsen hinderlich und als theoretischer Ansatz unzureichend, deshalb unsere Einladung zu dieser Diskussion. Die Frage, ob der Extremismus-Ansatz aus einer nationalstaatlichen Perspektive sinnvoll ist, soll in dieser Publikation nicht abschließend debattiert werden. Wir verstehen uns als nichtstaatliche Akteure, die ihre Arbeit möglichst unabhängig von administrativen Einflüssen eigenmächtig gestalten möchten. Wirkungsvolle zivilgesellschaftliche Arbeit muss sich unserer Auffassung nach von staatlichem Handeln emanzipieren. Wir hoffen auf Grundlage der vorliegenden Publikation auf eine ernsthafte und wirksame Debatte.

Wir werden zunächst einen Bogen spannen von der wissenschaftlichen Tragfähigkeit des Extremismusbegriffes und des -ansatzes hin zu konkreten Auswirkungen auf die politischen Diskussionen, auf aktives Handeln für Demokratie, auf Förderprogramme und auf journalistische Berichterstattung und Kommentierung.
Wir werden konkret in der Analyse der Phänomene und versuchen Alternativen zum Umgang mit dem Extremismusbegriff zu entwickeln.
Wir wünschen uns den ernsthaften Versuch, des gegenseitigen Zuhörens, voneinander Lernens und der Präzisierung gemeinsamer Begriffe und Analysen, um unsere Arbeit für eine demokratische Kultur weiter entwickeln zu können.

Gero Neugebauer wirft in seinem Beitrag zu dieser Publikation einen politikwissenschaftlichen Blick auf die Begriffe, Forschungskonzepte und Forschungsfragen der «Extremismus-Forschung» in der Bundesrepublik. Dabei schlägt er ein Verständnis von Rechtsextremismus vor, welches nicht auf dem Extremismusansatz basiert.

Um die Tragweite des Extremismus-Konzeptes auffächern zu können, wird die Wirkmächtigkeit des Begriffes aus drei relevanten gesellschaftlichen Perspektiven betrachtet. Der Landtagsabgeordnete Miro Jennerjahn gibt die tagespolitischen Debatten in Sachsen wieder, die durch den Rückgriff auf den Ansatz relevant erscheinen. Petra Schickert wird aus Sicht der Mobilen Beratungsteams des Kulturbüro Sachsen e.V. beschreiben, welche Probleme und Verwirrungen die Etablierung des Extremismusansatzes für die zivilgesellschaftliche Arbeit in Sachsen in den letzten Jahren mit sich brachte. Die MDR-Landeskorrespondentin Daniela Kahls zeigt auf, was Medien meinen, wenn sie von Extremismus und/oder Rechtsextremismus sprechen, wie die Nutzung der Begrifflichkeiten zustande kommt und welche Folgen diese Verwendung in den Medien nach sich zieht.

Zwei weitere Beiträge werden unseren Einstieg in die öffentliche Debatte um den Extremismus-Ansatz komplimentieren.

Stefan Kausch vom Forum Kritische Rechtsextremismusforschung wird aufzeigen, wie Ordnung und Extremismus eine konstruktive Beziehung eingehen, aus welcher sich eine Reihe demokratiespezifischer Fragen ergeben. Analysiert werden von ihm aktuelle Ordnungs- und Gesellschaftsvorstellungen und historische Verbindungslinien zwischen dem Extremismus-Modell und eines Social bzw. Political Engineering. Der Extremismus-Ansatz speist sich nach seiner Auffassung aus einem bestimmten Verständnis von Demokratie, welchem er alternative Demokratie-Ideen und eine Alternative zum Extremismus-Konzept entgegen setzen möchte.

Auch Doris Liebscher vom Antidiskriminierungsbüro Leipzig wird ihre Kritik am Extremismus-Ansatzes formulieren. Dabei wird sie den Blick auf zivilgesellschaftliche Akteure richten, die durch ihren Bezug auf Deutungsmuster des Extremismus-Konzeptes, den Ansatz weiterhin wirkmächtig machen. Als Ausweg aus dem Dilemma schlägt Liebscher einen Antidiskriminierungsansatz vor, der die Arbeit für eine offene, demokratische Gesellschaft vom Extremismus-Konzept unabhängig machen würde.

Wir werden mit dieser Publikation keine abschließende Analyse vorlegen können. Wir hoffen auf einen Denkanstoß und wollen als Herausgeber_innen dieser Dokumentation die Diskussion auch zukünftig weiterführen. Dabei wollen wir eine aktive Rolle bezüglich unseres Begriffsverständnisses einnehmen.
So gilt es künftig z.B. genauer zu analysieren, was sich hinter dem Begriff des «Linksextremismus» verbirgt, welche Phänomene, ideologischen Bausteine, vermeintlichen und echten Gefahren für die freiheitlich-demokratische Grundordnung und die demokratische Kultur können daraus erwachsen.

Unser eigenes Verständnis von einer demokratischen Gesellschaft gilt es zu schärfen und stark zu machen, um mit unserer Arbeit zur Stärkung einer aktiven demokratischen Zivilgesellschaft in Sachsen auch zukünftig erfolgreich zu sein.

Quelle: http://www.weiterdenken.de/web/publikationen-588.html
 

 

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