Aber hier leben? Nein danke!

Ein Gedanke der manche ereilen mag, welchen sich im vorübereilen die üblichen chemnitzer Zustände offenbaren. Der Satz richtet sich aber „Gegen die alltäglichen Zumutungen in der Provinz!“ und ist Titel des folgenden Aufrufs der Antifaschistischen Gruppe Freiberg zur

Antifaschistischen Demonstration in Freiberg am 9. Oktober – 14 Uhr – ab dem Bahnhof

Aufruf

Als am 7. Oktober letzten Jahres Freiberger und Dresdner Neonazis gemeinsam zur alljährlichen Opferzeremonie anlässlich der Luftangriffe auf Freiberg 1944 aufriefen, ließ es sich der Freiberger Verein gegen Extremismus auf Druck der TU Bergakademie nicht nehmen, dagegen mit einem eigens angefertigten Banner „Kein Krieg – Kein Extremismus“ zu protestieren. Parallel dazu lud man zum „Friedensgebet“ in die Petrikirche, denn „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!“
Um dem Geschichtsrevisionismus der Neonazis auf der einen und der Relativierung deutscher Schuld durch die Stadt und dem „Verein gegen Extremismus“ auf der anderen Seite etwas entgegenzusetzen, entschlossen wir uns dazu, dem Spektakel dieses Jahr eine eigene kritische Demonstration entgegenzusetzen. Das war irgendwann vor ein paar Monaten. Seitdem hat sich eine Menge ereignet,weshalb wir es für unerlässlich halten, den Rahmen der Demonstration zu erweitern und zu benennen, welche Entwicklung sich gegenwärtig abzeichnet.

Seit Beginn des Jahres gab es in Sachsen bereits 13 Brandanschläge auf linke Wohn- und Vereinsprojekte, sowie auf von Migrant_innen betriebene Gaststätten, davon allein drei in Freiberg und zwei in Döbeln. Bei einigen Anschlägen wurde der Tod von Personen billigend in Kauf genommen, da auch Wohnhäuser betroffen waren. Obwohl die neonazistische Gewalt also einen neuen Höhepunkt im Vergleich zu den letzten Jahren erreichte, blieben die öffentlichen Reaktionen weit hinter dem zurück, was angemessen gewesen wäre. Viel zu oft kam es zu Relativierungen und Beschwichtigungen, wie zum Beispiel bei der Diskussion um die Motive des mutmaßlichen Täters der Brandanschläge in Freiberg. Man konnte das Gefühl erlangen, als sei es mittlerweile anerkannte und geduldete Normalität, dass Häuser brennen und Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder politischen Überzeugung bedroht und verfolgt werden. Das Unsägliche wird zusehends normalisiert. Die öffentlichen Bekundungen der „Weltoffenheit“ Freibergs und die Forderung der Politik, die Täter schnell zu ermitteln, sind ein eingeübtes Ritual. Sie dienen der eigenen Beruhigung und nicht der wirklichen Bewusstmachung der Taten, den ihnen zugrunde liegenden Ideologien und deren Entstehung.
Raus aus der Provinz!
Freiberg ist dabei leider nur eines von vielen sächsischen Provinzstädtchen mit typischen Problemen – einer konservativen und uneinsichtigen Verwaltung, fehlender Angebote und Freiräume für Jugendliche, der daraus folgenden Abwanderung und jeder Menge Nazis – und dabei wahrscheinlich nicht einmal das schlimmste. Immerhin gibt es mit Mittweida, Burgstädt, Limbach-Oberfrohna, Rochlitz, Colditz oder Mügeln – um das hässlichste aller Nester zu nennen – harte Konkurrenz in nächster Nähe. Mindestens 120 rechtsmotivierte Gewaltdelikte, von denen 191 Personen direkt betroffen waren, gab es innerhalb der ersten Jahreshälfte in Sachsen; die Dunkelziffer dürfte ein ganzes Stück darüber liegen. Neben der von Nazis durch direkte Gewalt ausgehenden Gefahr ist außerdem ihre Dominanz in jugendlichen Peergroups ein akutes Problem, denn so wird deren menschenverachtendes Gedankengut verbreitet und normalisiert. Eine rechte Einstellung zu haben können Jugendliche heute längst offen und stolz verkünden und dafür noch Toleranz erwarten. Die meisten von ihnen sind keine überzeugten Nazis, teilen aber deren Hass auf das „Andere“, auf alternative Jugendliche also, auf Homosexuelle, Migrant_innen, oder Obdachlose.
Dass sich daran so schnell etwas ändern wird, wollen wir bezweifeln. „An einer Reeducation sind schon schlagkräftigere Organisationen als die lokale Antifa gescheitert“, merkte schließlich die AG „No Tears for Krauts“ bei einer Demonstration in Köthen im letzten Jahr kritisch an. Das stellt uns letztendlich vor Probleme, für die wir selbst keine Lösung haben, denn der eigenen Marginalität sind wir uns durchaus auf frustrierende Art und Weise bewusst. In Freiberg wird sich so schnell nichts ändern und wenn es in einigen Jahren tatsächlich doch noch eine neue Generation kritischer Jugendlicher oder gar Studierender geben sollte, werden diese vor nicht minder schweren Problemen stehen. Alles in allem also Aussichten, die wenig Anlass zur Freude geben.
Die Ignoranz der Jugend…
In den letzten Jahren hat sich eine unpolitische und vor allem unkritische Haltung immer weiter ausgebreitet und viele Bereiche erfasst. In Freiberg ist da z.B. der StuRa zu nennen, der politische Hochschulgruppen problematisch findet, oder die Freiberger Studentenzeitung, die keine „politischen“ Artikel abdrucken möchte. Ähnliche Aussagen finden sich in Jugendforen im Internet und nicht zuletzt in alltäglichen Gesprächen. Und die wenigen politischen Angebote, die es doch auch gibt, stoßen schließlich kaum auf Resonanz und bleiben mehr oder minder wirkungslos. Kritisches Engagement gegen menschenverachtende Einstellungen, respektive Neonazis, wird überall dort nicht als Selbstverständlich- und Notwendigkeit betrachtet, sondern als Teil einer Auseinandersetzung zwischen „links und rechts“, aus der man sich lieber heraushalten möchte. Dass rassistischen, homophoben, sexistischen, antisemitischen und autoritären Sprüchen und Handlungen von allen entgegengetreten werden muss, denen etwas an der Freiheit, der Individualität und der Selbstverwirklichung der Menschen gelegen ist, kommt in dieser Logik nicht vor. Individualität, Selbstverwirklichung und das Streben nach Glück scheinen nicht mehr wertgeschätzt zu werden und das ist das eigentlich Traurige und Gefährliche. Weder tätliche Angriffe, öffentliches Auftreten von Neonazis, tagtägliche Diskriminierungen von Migrant_innen durch menschenfeindliche Gesetzte und Institutionen, noch Brandanschläge auf einen linken Verein und auf von Migranten betriebene Imbisse scheinen daran viel geändert zu haben.
…und die immer gleiche Extremismusscheiße
In ein ähnliches Horn bläst die sogenannte Extremismustheorie, durch die das Handeln der städtischen Verwaltung geprägt ist. Demzufolge ist die neonazistische Ideologie vor allem ein Gewaltproblem und die dahinter stehende menschenverachtende Ideologie wird meist vernachlässigt. Vermeintliche Programme gegen Rechts sind daher zumeist auch nicht darauf ausgerichtet, Empathiefähigkeit und das „Anders sein“ als Selbstverständlichkeit zu fördern, sondern, um sich als unpolitisches Ritual den eigenen Rücken zu stärken. Die in der Mehrheitsbevölkerung weit verbreiteten Ressentiments rührt das nicht an. Es wäre im Gegenteil viel gewonnen, diese endlich einmal zu benennen, also z.B. zu sagen, dass Angriffe auf „Dönerläden“, die laut Aussage des Täters dadurch motiviert seien, dass die Betreiber ihm die Arbeit wegnähmen, ganz klar fremdenfeindlich motiviert sind, obgleich die Polizei das anders sieht und dem Täter keine grundsätzlich negative Einstellung gegenüber Ausländern attestiert. In Deutschland führt das immer wieder dazu, dass eindeutig rechts motivierte Taten nicht in die entsprechenden Statistiken eingehen.
Autoritäre Charaktere
Wer es ernst meint mit seinem Eintreten gegen Neonazismus kommt aber nicht umhin, Probleme wirklich zu benennen und sich einmal Gedanken über die Genese regressiver Ideologien zu machen. Wir können es nur immer wieder betonen: Wer Nazis nicht aufgrund ihrer menschenverachtenden Ideologien, die ein Angriff auf die Einzigartigkeit aller Menschen sind, aus tiefster Überzeugung ablehnt, sondern aufgrund eines herrschenden common sense, dass eben Nazis irgendwie blöd sind und nicht zuletzt dem Bild einer „weltoffenen“ Stadt, sowie einem „modernen Deutschland“ widersprechen, hat nichts verstanden und ist ob seiner Geringschätzung elementarer Werte einer freien Gesellschaft eigentlich nur zu bedauern. Bevor deshalb überhaupt wirksam gegen eine neonazistische Ideologie vorgegangen werden kann, ist es unerlässlich, ein Bewusstsein für all die Werte zu schaffen, die von dieser Ideologie bedroht werden.
Ohne Angst verschieden sein zu können ist die Forderung, die wir an diese Gesellschaft stellen. Das bedeutet, jedem Menschen zuzusprechen, sein Leben auf seine Weise zu gestalten und ihm die Möglichkeit einzuräumen, seine Persönlichkeit frei und vollständig zu entfalten. Der grassierende Anpassungsdruck an eine vermeintliche „Normalität“ – an „normale“ Kleidung, ein geregeltes Leben, Heterosexualität, Abstinenz von Drogen, Arbeitszwang, die Akzeptanz von Autoritäten – kurz – was die Mehrzahl der Menschen, ob freiwillig oder nicht, tut – ist schon immer Ausdruck eines autoritären Charakters, der durch Vorurteile, Konformität, Destruktivität, Autoritarismus und extremen Gehorsam gegenüber Autoritäten geprägt ist. „Er bewundert die Autorität und strebt danach, sich ihr zu unterwerfen; gleichzeitig aber will er selbst Autorität sein und andere sich gefügig machen.“ (Fromm, 1941/1978, S.163) Erste Studien dazu erstellte Erich Fromm bereits in den 1930er-Jahren und nahm das ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmal des nationalsozialistischen Menschen damit vorweg. Die Ursache sah er in der Unfähigkeit der Menschen, mit ihrer Freiheit selbstverantwortlich umzugehen und der darauf folgenden Flucht in konforme Sicherheit und dem Glauben an Autorität. Anders gesagt ist also die Reflektion der eigenen Stellung in potentiell unsicheren Verhältnissen, das Hinterfragen von Autoritäten und selbstverantwortliches Handeln Grundlage einer emanzipierten Persönlichkeit, die auszubilden Ziel von Gesellschaft und Kultur par exellence sein sollte.
Dass diese Forderungen in der ostdeutschen Provinz, wo „Schwuchtel“ unter Jugendlichen eine der verbreitetsten Beleidigungen ist, Wunschträume bleiben, liegt auf der Hand. Dass es mit der behaupteten Weltoffentheit hier nicht weit her ist, zeigt nicht erst das Verhalten gegenüber Asylbewerber_innen, die im Heim auf der Chemnitzer Straße unter miserablen Bedingungen zum Teil schon seit über 15 Jahren ein Leben führen, dass die gesetzliche Definition von „menschenwürdig“ nicht erfüllt. Denn dass Ausländer in Freiberg willkommen sind, ist Hohn in den Ohren dieser Menschen.

Imageschaden und Standortdenken
Dennoch gehört die Betonung der Weltoffenheit zum alljährlichen Ritual, wie Nazischlägereien zum Stadtfest. Es dient dabei weniger als Selbstverständnis, denn als Einladung an (ausländische) Investoren und ihr Kapital. Nicht umsonst wird immer wieder betont, dass „ausländische Gäste“ und nicht etwa Ausländer (die nicht nur Gast bleiben) willkommen seien. Ebenfalls spricht daraus ein autoritäres und schizophrenes Verwaltungs- und Gesellschaftsbild, das sich anmaßt, die Wünsche der Stadtoberen und nicht die konkreten Handlungen der dort lebenden Menschen zur Realität zu erklären. Freiberg wird dabei als ein kollektives „Wir“ gedacht, das Positives für sich vereinnahmt, für Negatives aber keine Verantwortung übernehmen will. So werden die Bergakademie, die Lokalgröße Sabine Ebert, die Solarindustrie und andere Belanglosigkeiten in die Freiberger Identität integriert, aggressive Nazis, unschöne Seiten der Stadtgeschichte, oder kritische Stimmen aber als nicht zugehörig betrachtet. Wir wollen für keine der beiden Zuordnungen plädieren, sondern darauf hinweisen, dass die Identifikation mit einer Stadt, ihrem Image und dem, was dort geschieht, eine konstruierte Illusion ist. Lediglich die Lebensqualität ist ein Kriterium, das Raum für Kritik oder Lob eröffnet und diese ist in einer Kleinstadt – noch dazu im Osten – nicht gerade hoch. Unsere Kritik zielt direkt auf diese Lebensqualität, die wir hier im Bewusstsein, in politischen Einstellungen, Angeboten und in der Bereitschaft zur Auseinandersetzung vermissen. Das hat nichts mit mies machen und Destruktivismus zu tun; vielmehr betrachten wir Kritik als den Motor jeder gesellschaftlichen Veränderung und als unabdingbar, will man, dass die Dinge je besser werden. Oder um es mit Karl Marx zu halten: „Die Kritik ist keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft.“
Mit unserer Demonstration wollen wir uns daher nicht als Politikberater_innen aufspielen, sondern einfach das sagen, was uns nicht passt; sagen, was das Leben in der sächsischen Provinz so hässlich macht. Wir wollen Menschen ermutigen, sich kritisch mit Neonazimus, Geschichtrevisionismus, Standortdenken, Lokalpatriotismus, menschenfeindlichen Ideologien, Anpassungszwang und nicht zuletzt auch mit Verhältnissen auseinanderzusetzten, die all dies immer wieder aufs Neue hervorbringen. Das heißt einen Einspruch zu formulieren, gegen ein Leben, das zu führen wir gezwungen sind; gegen ein Leben, das sich in kapitalistischen Bahnen abspielt und dem wir entgegenhalten:
Aber hier leben? Nein danke!
Antifaschistische Gruppe Freiberg, September 2010

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