zuerst erschienen in Chemnitzer Hausmeise…
Einen Text für die Hausmeise zu verfassen, kann einen vor einige Probleme stellen: Sollen wir große philosophische Ergüsse produzieren? Linke Theorien kritisieren? Oder linke Gruppierungen und Praxen polemisch á la Justus Wertmüller (1) verreissen? Auf jeden Fall muss mit diesem Text der große Wurf gelandet werden. Es gilt sich mit diesem einen Text zu profilieren.
Die Angst, dass unser Text den intellektuellen Anforderungen der geneigten Leserschaft nicht entsprechen könnte, dass heißt, dass wir zu wenig theoretisches Vorwissen einbringen und rhetorisch und stilistisch versagen, bleibt immer im Hinterkopf. Dies ist einerseits ein Anreiz, einen guten fundierten Text zu schreiben, andererseits eine Hürde und erste Schwelle, die immer mitschwingt.
Texte in linken Publikationen, gerade in szeneinternen, stellen gewisse Anforderungen an die Leserinnen und Leser. Eigentlich sollte man mindestens zwei Jahre an einer höheren Lehranstalt verbracht haben, um intellektuell anschlussfähig zu sein. Dies setzt sich in internen Diskussionen bei Bier und Zigarette fort, in denen die Erörterung einer durchaus sinnvollen und brisanten Frage im Laufe der Unterhaltung zu einem Theoriebashing samt intellektuellem Schwanzvergleich verkommt (und hier sind durchaus auch Frauen und Mädchen gemeint). Ab dem Punkt geht es nicht mehr um die Erörterung, Reflektion oder gar Lösung des Problems, sondern lediglich um das größere theoretische Wissen. Es kommt zu Aussagen wie: „Bei Adornos Minima Moralia, Seite 13 findet man folgendes…..“ oder dem absatzweise (auswendig!) Rezitieren von hippen Theoretikern (Frauen kommen hier als Wissenschaftlerinnen eh nicht vor (2). Dabei heißt rezitieren können noch lange nicht verstanden haben! Ganz oft hat man das Gefühl, dass eine eigene Position versteckt wird.
Es herrscht eine immense Drucksituation. Es gibt keine Möglichkeit zu sagen, dass man etwas nicht weiß oder verstanden hat. Selten wird gefragt „Wie meinst du das?“ oder um die Erklärung eines Wortes gebeten. Immer hat man das Gefühl nicht genug gelesen zu haben. Man muss einfach diverse Theorien kennen, um mitreden zu können. Man muss aggressiv rhetorisch geschult sein, um gehört zu werden. Nicht zuletzt: Die anderen, die die Bildzeitung lesen, können und wollen uns nicht verstehen, aber das ist ja auch nicht so schlimm, weil wir können und wissen es besser! Wir sind ja akademisch gebildet, die Speerspitze der Revolution und geben die Linie vor!
Es kommt zu einer Abgrenzung: Ich schwimme in meiner eigenen Suppe, in meinem eigenen Dunstkreis und grenze mich von allen anderen ab, die nicht so sind wie ich d.h. nicht so kritisch, linksintellektuell, und szenealternativ in Verhalten und Aussehen. Ist nicht gerade dies eigentlich zutiefst (spieß-)bürgerlich?
Menschen, die diesen Anforderungen nicht gerecht werden können (z.B. Haupt- und Realschüler_innen), nehmen an Diskussionen kaum teil. Natürlich sitzen sie dabei und hören zu, melden sich aber kaum zu Wort. Hier kann jede und jeder selbst seine und ihre Plenaerfahrungen überdenken.
Auffällig ist, dass es vor allem Frauen (wenn auch nicht ausschließlich) betrifft. Die Schwelle einzusteigen ist immens hoch, wie oben beschrieben. Vielleicht herrscht die Angst vor, sich zu blamieren, als dumm abgestempelt zu werden. Vielleicht hat es etwas mit dem Spagat zu tun, den Frauen tagtäglich leisten: Einerseits ernst genommen werden zu, weil ich nicht dass devote Frauchen sein möchte. Ich werde aber nur ernst genommen, wenn ich genau diese „männlichen“ Verhaltensweise kopiere. Wenn ich aber andererseits genau diese Verhaltensweise übernehme oder voll ausspiele, gelte ich womöglich als Kampflesbe und unattraktiv für potentielle Sexpartner_innen.
Der Druck herrscht, wenn auch anders begründet, auch bei Männern. Denn natürlich müssen Männer theoretisch belesen sein, um unter Männern anerkannt zu werden. Der coole Antifa-Checker ist bei manchen Frauen durchaus hoch im Kurs. Andererseits gehört es selbstverständlich zur Identität eines linken Mannes, nichtsexistisch zu sein und Frauen einzubinden – ein Dilemma der vorherrschenden Geschlechterrollen.
Zurück zum Plena und zum Gruppenverhalten. Eine Möglichkeit, als Frau im männerdominierten Diskursen anerkannt zu werden, ist die Nische des Sexismus-Diskurses. Dieser wird häufig nur von Frauen als Betroffene thematisiert. Nur hier wird Frauen zugehört aufgrund der Identität des linken Mannes, nichtsexistisch zu sein. Nur hier wird ihnen der Raum zugestanden, theoretisch fit zu sein. Schöne patriarchale Welt! Scheint doch zu oft die queer-theoretische und postmoderne, poststrukturalistische Frau gegen den marxistischen Mann zu stehen. Dies spiegelt durchaus die Geschlechterverhältnisse innerhalb der Theorien wider. In anderen Theoriezusammenhängen rezipieren und rezitieren Frauen sehr oft männliche Denker, um mithalten zu können. Ist es emanzipatorisch, wenn man als Frau nur den Männern hinterher eifert und Machtstrukturen, die kritisiert werden, somit reproduziert?
Eine Lösung dieser Zwiespältigkeit ist das Durchbrechen dieser Verhaltensweisen: Räume zu schaffen, in denen es möglich ist, Fragen zu stellen und vermeintliche Schwäche zu zeigen. Weg mit dem intellektuellen Schwanzvergleich hin zu Diskussionen, die Lösungsansätze schaffen bzw. zumindest Raum für freies Denken schaffen. Dies kann durch freies Assoziieren und das Aussprechen eigener Ideen geschehen. Bei praktischen Aufgaben durchaus in der Verteilung der Tätigkeiten und auch der „prestigeträchtigen“ und schweren, an Menschen, die sich weniger zu Wort melden und weniger in Erscheinung treten. So kann man auch das Problem lösen, dass sich die Menschen, die sehr viele Aufgaben übernehmen irgendwann leer brennen bzw. den Druck für (meist) Männer raus nehmen, immer der Anführer zu sein, nie abschalten zu können, immer eine Lösung wissen zu müssen. So kommen auch andere in die Verantwortung Entscheidungen treffen zu müssen. Versteht uns nicht falsch, wir bedauern nicht den armen Mann, sondern die Zwangsverhältnisse, in denen wir auch in linken Kreisen leben. Wir sehen die patriarchalen Verhältnisse, in denen heterosexuelle, weiße Männer die Macht innehaben, von den Frauen physisch und psychisch stärker betroffen sind. Gerade diese vorherrschende Männlichkeit fällt Männern als zu oft auf die Füße.
Es geht in diesem Text nicht um die armen schwachen Frauen und die starken Männer, weder um ein naturgemäßes „so sind Männer, so sind Frauen“, sondern um eine Reflexion unserer Erfahrungen in diversen Gruppen. Kritik am System heißt auch Kritik an den Verhaltensweisen, die uns dieses System aufzwingt, ohne dass wir es manchmal merken! Es geht uns darum Theorien über die gesellschaftlichen Verhältnisse aufzustellen und eine Position zu erarbeiten, die Verhältnisse umzuwälzen und zu bekämpfen, dabei aber auch immer bei sich zu bleiben; bei den eigenen Wünschen und Ansprüchen, den eigenen Gedanken und Ideen. Prinzipielle Selbstreflexion und dann kommt natürlicher- und logischerweise in mir und der Umwelt eine Veränderung. Wenn ich die Theorie für mich selbst übernehme und abgleiche, kann ich erkennen in wieweit das praxistauglich ist und anwendbar.
Seht ihr: Wir als Frauen schreiben natürlich auch wieder nur über ein empathisches und den Sexismus betreffendes Thema. Note eins: Geschlechterrolle erfüllt!
Der „Frauenblock“ der RHG
(1) Justus Wertmüller ist Redakteur der Zeitschrift Bahamas
(2) Frauen und Wissenschaft ist eigentlich ein Thema für einen gesamten Artikel. Hier nur soweit: Ein wesentlicher Grund für die Geschlechterungleichheit ist, dass auch Frauen in der Wissenschaft stark unterrepräsentiert sind. Gerade was die Theorie angeht. Auch die Anstellungen an Fhs und Unis zeigen dies deutlich. Schonmal aufgefallen, dass fast alle Theoriemenschen Männer sind? Guckt doch mal in eure Bücherschrank unter den Fachwälzern.
Eine Flutsche ist kein Ball seiner Bestimmung nach.
Bemerkungen zum Mindeststandard kritischer Gesellschaftstheorie. Eine Antwort auf Mother Jones.
Im Oktober 2011 erschien in diesem Magazin ein Text mit dem Titel „Linke Theorie: Sinn und Zweck. Eine Antwort auf den RHG-Frauenblock“. Darin unternahm der Autor den Versuch einer Kritik des politischen Diskurses innerhalb linksradikaler Zusammenhänge in dieser Stadt. Wie die Unterüberschrift bereits vermuten lässt, handelte es sich außerdem um die Antwort auf einen Artikel des Frauenblocks der Roten Hochschulgruppe, der in der vorherigen Ausgabe abgedruckt worden war. Was Mother Jones in jenem Text über Sinn und Zweck ‚linker‘ Theorie formulierte, ging allerdings am Kern der ursprünglichen Debatte vorbei. Zudem offenbarte sich darin ein Verständnis von ‚linker‘ Theorie und Praxis, das ich keineswegs teile.
Zunächst wurde die Frage der Geschlechterrollen im hiesigen Diskurs, um die es dem RHG-Frauenblock ursprünglich gegangen war, schlicht übergangen. Das Wesen und die Bedeutung dieser Problematik wurden nicht einmal ansatzweise erfasst und es scheint geradezu so, als ob sich um den Versuch einer Analyse auch nicht sonderlich bemüht wurde. Außerdem entwirft Mother Jones ein Szenario des ‚Dampfplauderns‘ und des ‚intellektuellen Schwanzvergleichs‘, das mit der meist traurigen Realität der hier laufenden Diskurse nicht allzu viel tun hat. Diesen Fehler machten bereits die Kritikerinnen des RHG-Frauenblocks. Allerdings war deren Auseinandersetzung mit der politischen Diskurskultur etwas tiefgründiger und traf daher einigermaßen den Kern der Sache.
Im weiteren Verlauf des Textes offenbart sich schließlich ein Denken über den Bezug von Theorie und Praxis, schlussendlich ein Wissenschaftsverständnis, das dem, was sich unter dem Begriff des Positivismus versammelt, erstaunlich nahe steht. Deutlich wird das vor allem immer dann, wenn der Autor den Versuch unternimmt, seine Behauptungen mit Beispielen zu untermauern. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, zu zeigen, warum eine solche Denkart an den Mindeststandard kritischer Gesellschaftstheorie nicht heranreicht.
Gleich zu Beginn seiner Ausführungen über Sinn und Zweck ‚linker‘ Gesellschaftstheorie kommt Mother Jones zu einem verheerenden Vergleich von Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Demnach stellten erstere die Richtigkeit ihrer Theorien durch tatsächlich fliegende Flugzeuge unter Beweis, letztere durch das Gelingen psychologischer Massenmanipulation. Die einschränkende Formulierung, es verhalte sich in den Geisteswissenschaften „[g]anz ähnlich“ – also nur fast genauso – wie in den Naturwissenschaften, suggeriert noch ein Mindestmaß an Differenz zwischen beiden. Diese wird durch die darauf folgenden Beispiele jedoch völlig eingeebnet. Der Autor kommt hier zu dem Schluss, dass jede Theorie richtig sei, deren Anwendung einen bestimmten Zweck erfüllt – unabhängig von der Qualität dieses Zwecks.
Infolge dieser Überlegung formuliert Mother Jones eine nicht weniger bedenkliche Gegenüberstellung faschistischer und emanzipatorischer Bewegungen. Auf den ersten Blick mag diese noch plausibel erscheinen: Für Faschisten beschränke sich „der Wahrheitszwang auf die strategischen und taktischen Theorien zur Machterlangung unter bürgerlichen Verhältnissen“. Eine emanzipatorische Bewegung müsse sich da „viel weitergehende Gedanken“ machen, schließlich gehe es ihr um eine „menschliche Gesellschaft […] ohne Herrschaft“. Eine emanzipatorische Bewegung, die diesen Namen auch verdient, muss sich aber nicht weitergehende, sondern vom Faschismus grundsätzlich verschiedene Gedanken machen. Das Ziel des Faschismus, das Individuum in einer funktionierenden Gemeinschaft aufzulösen, steht dem Anspruch einer befreiten Gesellschaft völlig entgegen. Letzterer steht dafür, die Verhältnisse zu überwinden, die das Individuum fortwährend um die Möglichkeit seiner tatsächlichen Entfaltung betrügen und es schlussendlich zu eliminieren drohen. Folgt man der Argumentation des Autors, kommt man zu dem Schluss, dass die Praxis einer emanzipatorischen Bewegung sich bis zum Punkt der „Machterlangung unter bürgerlichen Verhältnissen“ – die hier offenbar als wesentlicher Auftrag einer solchen Bewegung begriffen wird – nicht zwingend von der einer faschistischen unterscheiden müsse. Eine solche Argumentation setzt allerdings die Gleichgültigkeit der Mittel gegen ihre Zwecke voraus und vergisst, dass diese sich durch reflexionslosen Gebrauch verselbstständigen und den Zwecken entfremden. Eine emanzipatorische Bewegung kann doch überhaupt nicht so vorgehen, wie eine faschistische. Letztere will die totale Herrschaft des Kollektivs errichten, erstere Herrschaft überhaupt abschaffen. Es erscheint unmöglich, dass Praxis mit derart entgegengesetzten Zielstellungen auch nur im Ansatz gleich sein kann. Vielmehr müsste es zwischen beiden wesenhafte Unterschiede geben.
Das funktionalistische Wissenschaftsverständnis des Autors wird auch an generellen Aussagen über (‚linke‘) Theorie immer wieder deutlich. So werden die Sozialwissenschaften lediglich als Lieferant praktisch anwendbaren Wissens begriffen. Wie in den Naturwissenschaften sei auch hier erst durch die Anwendung von Theorien festzustellen, ob diese richtig oder falsch sind. Für eine Theorie, die sich nicht unmittelbar anwenden lässt, kann demnach gar nicht gesagt werden, ob sie richtig oder falsch ist. Da man sich über die Richtigkeit von Theorien jedoch ohnehin nur Gedanken machen müsse, wenn sie angewandt werden sollen, stellt das offensichtlich kein Problem dar. Voraussetzung für die Anwendbarkeit und somit Richtigkeit einer bestimmten Theorie sei es, dass sie „die Wirklichkeit in ausreichenden Maß“ wiedergibt. ‚Linke‘ Theorie müsse sich um diese richtige Wiedergabe der Wirklichkeit gerade deshalb bemühen, weil sie beim Beschreiten des Weges in eine bessere Gesellschaft Anwendung finden soll. Der Begriff der Wirklichkeit schließt allerdings nur das empirisch Verifizierbare ein, ist also auf die unmittelbaren Erscheinungen begrenzt und daher vom Begriff der Wahrheit (im Sinne von Wesenhaftigkeit) durchaus zu unterscheiden – wenn auch nicht zu trennen(1).
Im Rahmen einer kritischen Theorie der kapitalistischen Gesellschaft fallen neben Wirklichkeit und Wahrheit aber auch Stichhaltigkeit und Anwendbarkeit auseinander. Das liegt darin begründet, dass eine solche Theorie notwendigerweise unrealistisch, also fundamental gegen die bestehenden Realitäten gerichtet ist. Da liegt der Fehler aber nicht in der Theorie, sondern im falschen gesellschaftlichen Verhältnis, an das jene sich nicht anpasst. Deutlich wird das schon bei Marx: Im „Kapital“ werden die hinter den Erscheinungen stehenden Wesenszüge der kapitalistischen Gesellschaft mithilfe einer nicht-empirischen Theorieebene erschlossen, der des Werts. Die Idee, dass sozialwissenschaftliche Theorien ihre Richtigkeit nur durch ihre Anwendbarkeit unter Beweis stellten, mutet, auf die marxsche Theorie bezogen, absurd an. Wie Theodor W. Adorno bereits in seinen „Marginalien zu Theorie und Praxis“ anmerkte, ergeht aus ihr nämlich keine Handlungsanweisung:
Nun ist es aber keinesfalls das Anliegen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Praxis zu negieren. Im Gegenteil: Nur durch das kritische Bewusstsein von der potenziellen Falschheit aller Praxis unter den gegebenen Verhältnissen können überhaupt noch sinnvolle Handlungsperspektiven erschlossen werden. Die Einsicht in die scheinbare Unmöglichkeit richtiger, also tatsächlich revolutionärer, Praxis ist vielmehr als Motor ebenjener Praxis zu verstehen, die aus der Verfangenheit in kapitalistischen Verhältnissen einmal auszubrechen vermag. Zu dieser Einsicht kann man aber nur gelangen, wenn die Selbstständigkeit von Theorie gegenüber Praxis gewahrt bleibt, Theorie nicht zum reinen Mittel der Praxis verstümmelt und ihr somit schließlich untergeordnet wird. Theoriebildungsprozesse, die entweder ausschließlich zweckrational orientiert oder ‚wertfrei‘ sind, können nicht zu einer vernünftigen Praxis führen. Sie vereidigen das Denken auf die Systemimmanenz, indem unmittelbare Anwendbarkeit zum Pflichtprogramm von Theorie wird. Solche Theorie ist nicht länger einer menschenfreundlichen Utopie verpflichtet, ebensowenig die aus ihr abgeleitete wahnhafte Praxis. Das, was heute beispielsweise vom sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream als Innovation verkauft wird, sind dann zumeist auch nur noch verdrehtere Varianten des im Kern immergleichen Falschen, die sich prima als Instrumente zur Aufrechterhaltung von – wie auch immer vermittelter – Herrschaft eignen. Eine Kritik findet nicht statt.
Folgt man der Argumentation von Mother Jones, liegt das allerdings nicht daran, dass Theorie zum reinen Mittel degradiert wird, sondern an ihrer ideologischen Untermauerung. Da die Sozialwissenschaften „ideologisch heiß umkämpftes Gebiet“ sind, müsse es ‚linker‘ Theorie darum gehen, „die Ansicht [zu] stärken, dass Kapitalismus nicht tragbar, eine bessere Welt nötig ist“.
Die Sozialwissenschaften müssten als Lieferant praktisch anwendbaren Wissens also lediglich mit der richtigen Ideologie im Hinterkopf arbeiten. Diese Aussage weist bereits auf das später geäußerte Dogma der Trennung von Deskriptivem und Normativem hin. Dabei wird übersehen, dass sich, erstens, die Notwendigkeit einer ‚besseren Welt‘ letztlich nur normativ begründen lässt und zweitens die Mittel – Theorie wie Praxis – von dieser normativen Letztbegründung nicht einfach abgelöst werden können.
Exemplarisch drückt sich die fatale Konsequenz jenes Trennungsgebots gerade in dem Beispiel aus, das Mother Jones anführt, um seine Notwendigkeit zu verdeutlichen. Da heißt es:
Die hier propagierte formale Trennung von Deskriptivem und Normativem führt schlussendlich zu einer Degradierung des Normativen als unwissenschaftlich, als bloße austauschbare Meinung. Sobald man aber die Frage stellt, wozu ein Ball überhaupt da ist, wozu er von Menschen benutzt wird und welche Eigenschaften ein Gegenstand dazu erfüllen muss, weißt die Flutsche automatisch einen Mangel gegenüber dem prallen Ball auf. Das sagt der Autor selbst, indem er formuliert, dem Ding fehle Luft. Das impliziert bereits jenen Mangel, der der Bestimmung des Balls nach zu beseitigen wäre. Wird der Zweck des Balls bei der ganzen Sache jedoch außer Acht gelassen, macht man – einer falschen Reinheit der Theorie zuliebe – Zugeständnisse an diesen ganz offenbaren Mangel.
Abgesehen davon ist das Beispiel eines Gegenstandes aus der leblosen Natur einigermaßen ungeeignet, um das Anliegen einer kritischen Gesellschaftstheorie zu erörtern. Ein lebloses Ding kann nicht über sich selbst reflektieren. Es empfindet nichts. Das ist mit Menschen anders und sollte deshalb dort berücksichtigt werden, wo es noch um Menschen als solche geht. Der Mensch empfindet Leid. Deshalb ist die normative Setzung, dass alle wissenschaftliche Betätigung dem Ziel der Vermeidung zumindest von strukturellem – also notwendig durch die gesellschaftlichen Verhältnisse hervorgerufenem – Leid verpflichtet zu sein hat, der unbestreitbare Mindeststandard kritischer Gesellschaftstheorie.
Das, was also kritische Gesellschaftstheorie von dem affirmativen Kaffeesatz, den man heute allerorten zu hören bekommt, unterschiedet, ist gerade die (normative) Qualität ihres Anliegens, überhaupt der Umstand, dass sie noch ein übergeordnetes Anliegen hat. Sie ist der Wahrheit verpflichtet und will nicht nur nachkonstruieren. Normatives und Deskriptives mag zu unterscheiden sein, ist aber im Rahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie im Gefolge der marxschen Kritik keineswegs zu trennen.
Anmerkungen:
(1) „Offenbar macht im Denken die Unterscheidung zwischen ‚Unterscheiden‘ und ‚Trennen‘ Schwierigkeiten, während man wohl nicht in allen Fällen, in denen man den Kopf seines Gegenübers von dessen Rumpf unterscheidet, sofort zur Trennung überzugehen bereit ist.“ (Herbert Schnädelbach: Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Einführung. Junius, Hamburg 2007. S. 16.)
(2) Theodor W. Adorno: Marginalien zu Theorie und Praxis. In: Ders.: Stichworte. Kritische Modelle 2. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1969. S. 190.
Linke Theorie: Sinn und Zweck
Eine Antwort auf den RHG-Frauenblock
Der letzte Hausmeister enthielt einen Beitrag von einem „Frauenblock der RHG“, über den ich mich sehr gefreut habe, weil er Dinge anspricht, die mich auch bewegen, und hoffentlich eine längst fällige Diskussion anstößt. In ihm beklagen die Autorinnen die Gesprächs- und Diskussionskultur in unseren Kreisen. Eitles Zitieren von irgendwelchen Philosophen, gegenseitiges Übertrumpfen im gelehrt daherreden und fast nie die ehrliche Frage nach dem Sinn des zuletzt benutzten Fremdworts oder nach dem Zusammenhang verschiedener vorgetragener Ansichten. Derartige Fragen sind – abgesehen vom seltenen Fall alter Bekannter, die in langen zurückliegenden Gesprächen bereits eine gemeinsame Sprache gefunden haben – jedoch meist unerlässlich. Vorausgesetzt man unterhält sich, um zusammen über eine Sache nachzudenken oder voneinander zu lernen und nicht, um sich die Zeit zu vertreiben und dabei anderen die eigene Bildung vorzuführen oder weil man sich aus irgendeinem Grund zum Gespräch genötigt fühlt. Allerdings ist in unseren Kreisen die erste Absicht viel zu selten zu finden. Die Ahnung, einem Dampfplauderer und Hochstapler gegenüber zu sitzen, hat wohl jeder schon mal verspürt, der sich mit anderen über gesellschaftstheoretische Dinge unterhalten hat.
Meine Beschreibung der Lage stimmt meines Erachtens soweit mit der vom Frauenblock überein. Ich sehe aber auch einiges anders. Zunächst halte ich die an verschiedenen Stellen durchscheinende Bewunderung für die am Schwanzvergleich teilnehmenden Jungs und Männer für unangebracht. Viel angebrachter wäre Mitleid oder Spott.
Davon abgesehen habe ich auch eine andere Erklärung für dieses bemerkenswerte Verhalten. Während der Frauenblock den Grund im Geschlechterverhältnis sieht, würde ich eher grundlegende Unklarheiten theoretischer Natur als Ursache anführen, die unter Vertretern beider Geschlechter verbreitet sein dürften. Dass es die beschriebenen Zwänge der herrschenden Geschlechterrollen tatsächlich gibt, will ich dabei gar nicht bezweifeln, halte sie jedoch in diesem Zusammenhang nicht für entscheidend. Für viel wichtiger halte ich das Fehlen eines grundlegenden Verständnisses für den Sinn derartiger Diskussionen und Gespräche. Die entscheidende Frage lautet: Weshalb diskutieren wir eigentlich miteinander?
Ich würde folgende Antwort vorschlagen: Die Diskussionen, egal ob mündlich oder in Schriftform, sind Teil einer notwendigen Theoriebildung, bei der es letztlich darum gehen muss, zu erkennen, wie unsere Gesellschaft funktioniert, warum sie so ist, wie sie ist, und wie eine bessere Gesellschaft möglich wäre. Darüber, dass – und meist auch in welcher Hinsicht – unsere derzeitige Gesellschaft verbesserungsbedürftig ist, herrscht unter Linken Einigkeit. Man wünscht sich eine Gesellschaft ohne Herrschaft, Krieg, Hunger, Massenelend, Rassismus, massive Umweltzerstörung und noch eine Reihe weiterer Übel. Über die Frage jedoch, wie man diese notwendigen Verbesserungen tatsächlich umsetzen kann, herrscht Unklarheit. Der Weg in eine Gesellschaft, in der alle menschenwürdig leben können, liegt weitgehend im Dunkeln. Diesen Weg zu finden, ist die vorrangige Aufgabe von linker Gesellschaftstheorie.
Bei den Naturwissenschaften ist der Gedanke leicht einzusehen: Indem die Flugzeuge fliegen und Brücken tatsächlich halten, bezeugen sie die Richtigkeit der Theorien, die ihrer Konstruktion zugrunde liegen. Durch reine Theorie, hätte sich das nicht zeigen lassen. Ganz ähnlich liegt der Fall bei den Gesellschaftswissenschaften. Erst ihre Anwendung zeigt, ob sie stimmen. Zum Beispiel kann man sich vorstellen, dass bei Werbung und Wahlkämpfen u.a. sozialpsychologische Theorien zur Anwendung kommen, und dass in diesen Fällen der Erfolg der Anwendung, die Steigerung der Verkäufe bzw. Wählerstimmen, vom Wahrheitsgehalt der Theorien abhängt. Dies gilt generell: Immer wenn man einen Zweck erreichen will, müssen die den eigenen Handlungen zugrunde liegenden Theorien die Wirklichkeit in einem ausreichenden Maß wiedergeben. Sie müssen also richtig sein.
Wer eine Gesellschaft verändern will, braucht dazu geeignete Theorien. Dabei richten sich die Anforderungen an die Theorien nach den Zielen der jeweiligen Bewegung. Für faschistische Bestrebungen etwa beschränkt sich der Wahrheitszwang auf die strategischen und taktischen Theorien zur Machterlangung unter bürgerlichen Bedingungen. Die emanzipatorische Bewegung muss sich da viel weitgehendere Gedanken machen. Sie muss Klarheit über die Gesetzmäßigkeiten menschlichen Zusammenlebens im Allgemeinen und die Funktionsweise unserer Gesellschaft im Speziellen haben. Schließlich ist das Fernziel eine menschliche Gesellschaft ohne Klassen und ohne Herrschaft. Will sie dieses Ziel erreichen, ohne die Lebensweise von Naturvölkern zu übernehmen, muss sie neue Formen des Zusammenlebens, des Produzierens und Verteilens von Gütern erdenken, erproben und gesellschaftlich durchsetzen.
Dabei meine ich mit linker Gesellschaftstheorie keinesfalls eine als Wissenschaft verkleidete politisch nützliche Ideologie. Im Gegenteil. Gerade weil die linke Gesellschaftstheorie beim Beschreiten des Weges nützlich sein soll, muss sie stimmen. Betreibt man gesellschaftstheoretische Studien aus Karrieregründen, etwa innerhalb des akademischen Betriebs, aus persönlicher Geltungssucht, um abends mit der eigenen Belesenheit zu imponieren oder auch aus purer Langeweile, muss man sich keine Gedanken über die Richtigkeit von Theorien machen. Anders sieht es aus, wenn Theorien angewandt werden sollen.
Anders als die Naturwissenschaften erfüllen die Gesellschaftswissenschaften aber noch eine andere Funktion. Da die Vorstellungen der Menschen über ihre Gesellschaft in erheblichem Maß durch die Gesellschaftswissenschaften beeinflusst werden, sind diese nicht nur Lieferant von praktisch anwendbarem Wissen, sondern gleichzeitig ideologisch heiß umkämpftes Gebiet. Denn diejenigen, denen es gut geht, haben ein starkes Motiv, die gesellschaftliche Ordnung, die ihnen ein so angenehmes Leben beschert, ideologisch zu verteidigen. Die Unzufriedenen, hingegen, haben allen Grund, ihre schlechten Erfahrungen als allgemein gültiges Bild zu verankern. Geben Erstere den Ton an, hat das stabilisierende Wirkung. Im anderen Fall wird die Ordnung dadurch destabilisiert, dass die Menschen die Art ihres Zusammenlebens als verbesserungswürdig ansehen.
Auf dem ideologischen Gebiet wäre eine wichtige Aufgabe der Linken, die Ansicht zu stärken, dass Kapitalismus nicht tragbar, eine bessere Welt daher nötig ist. Wie macht sie das? Muss sie dazu lügen? Nein. Es genügt, die tatsächlichen Prinzipien und die Funktionsweise unserer Gesellschaft richtig darzustellen. Dies allein genügt, da unsere Gesellschaft den allgemein herrschenden Wertvorstellungen in vielerlei Hinsicht widerspricht. Vier kurze Beispiele: 1. Kapitalismus ist eine Klassengesellschaft, in der ein Teil der Bevölkerung von der Arbeit des anderen Teils lebt. 2. Gehört man nicht zur herrschenden Klasse, geht man arbeiten und begibt sich täglich 8 Stunden unter die Herrschaft eines Chefs. Der Großteil der Bevölkerung verbringt also einen Großteil seines Leben in Unfreiheit. 3. Der Besiegung der materiellen Armut weltweit steht entgegen, dass sie unter kapitalistischen Bedingungen profitabel ist. Es gab noch nie soviel Hunger auf der Welt wie heute. 4. Kriege sind ebenfalls profitabel und werden schon deshalb auch zukünftig regelmäßig auftreten. All diese Eigenschaften unseres Systems widersprechen den Wertvorstellungen der allermeisten Menschen.
Sollen die zahlreichen Klagen der Linken über die Zumutungen des kapitalistischen Systems nicht konsequenzlos bleiben, obliegt ihr also die Aufgabe, die Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft zu enthüllen und gleichzeitig Strategien zur gesellschaftlichen Umgestaltung zu erarbeiten. Und dieser Erkenntnisprozess findet eben – hoffentlich bald stärker als bisher! – auch in Chemnitz statt, wenn man sich beispielsweise donnerstags im Lesecafé trifft. Die geführten Theoriediskussionen bieten die Möglichkeit, Thesen und Theorien zu erproben und gegen Einwände zu verteidigen. Gelingt dies, haben alle Beteiligten etwas gelernt, weil sie im gemeinsamen Nachdenken die zur Disposition gestellte Theorie nicht entkräften konnten und somit vorläufig als wahr annehmen können. Im gegenteiligen Fall haben ebenfalls alle Beteiligten etwas gelernt und werden vermutlich den entdeckten Fehler in der Argumentation zukünftig nicht wiederholen. Eine Diskussion kann also unabhängig von ihrem Ausgang fruchtbar und sinnvoll sein, vorausgesetzt die Beteiligten fassen sie nicht als Arena für intellektuelle Schaukämpfe auf.
Nach diesen Ausführungen über Sinn und Zweck linker Theoriebildung bleibt nur noch, ein paar Dinge hervorzuheben, die hinsichtlich der Diskussionskultur wünschenswert wären. Erstens ist es wichtig, deskriptive und normative Aussagen auseinanderzuhalten. Deskriptive Aussagen betreffen die Wirklichkeit und stellen Urteile über die Welt dar, z.B.: „Der Ball ist nicht aufgepumpt.“ Fehlt dem Ball tatsächlich Luft, stimmt das Urteil über die Wirklichkeit also mit der Wirklichkeit selbst überein, ist die Aussage wahr. Demgegenüber können normative Aussagen weder richtig noch falsch sein, da sie Werturteile über die Wirklichkeit enthalten. Sie geben Auskunft über die persönliche Haltung zur Wirklichkeit, etwa: „Den Ball dort sollte man mal aufpumpen!“ Oft sind Diskussionen schon deshalb unbefriedigend, weil die Diskussionspartner beide Ebenen durcheinander bringen. Weist man daraufhin, dass der Ball nicht prall ist, heißt das noch lange nicht, dass man möchte, dass er aufgepumpt wird.
Während man deskriptive Aussagen also durch einen Vergleich mit der Wirklichkeit widerlegen oder stützen kann, lassen sich normative Aussagen lediglich im Hinblick auf Widerspruchsfreiheit oder Folgerichtigkeit prüfen. Die Diskussion über Werturteile lassen also eventuell die Denkfehler des Beurteilenden zutage treten, Erkenntnisse über die Wirklichkeit lassen sich so nicht gewinnen.
Zweitens legt die Suche nach Gesellschaftserkenntnis nahe, dass – anders als im Universitätsseminar – das Nennen von Namen großer Philosophen in der Regel keinen Nutzen hat. Autoritätsargumente sind keine Argumente. Die Richtigkeit eines Gedankens hängt eben nicht von seinem Urheber ab.
Drittens darf nicht vergessen werden, dass Studenten – und in unseren Kreisen diskutieren hauptsächlich Studenten – eine kleine privilegierte Minderheit darstellen, die den Luxus genießt, jahrelang Theorien durchdenken und diskutieren zu können, während ein anderer Teil der Bevölkerung für sie Wohnraum, Nahrung, Kleidung und allerlei Dienstleistungen produziert. Anstatt bei dieser Sachlage über die Beschränktheit der Masse zu sinnieren, wäre es schon wegen der breit geteilten Utopie von einer herrschaftsfreien Gesellschaft angebrachter, sich bei der Formulierung von Erkenntnissen über unsere Gesellschaft möglichst klar und möglichst einfach auszudrücken. Worauf soll denn die neue Gesellschaft fußen, wenn nicht auf der Einsicht aller Beteiligten? Allerdings ist es natürlich viel schwieriger, komplizierte Dinge einfach, aber trotzdem richtig darzustellen, als beispielsweise Hegels Theorien mit Hegels eigenen Worten zu „erläutern“.
Soweit meine Vorstellungen zur Frage, warum wir diskutieren sollten. Wenn jemand andere Auffassungen vertritt, wäre es natürlich schön, wenn sich hier im Hausmeister eine Diskussion entwickeln würde.