Polizeiliche Repression gegen Antifaschist_innen, eine zahnlose bürgerliche Demonstration und durch die Stadt ziehende Geschichtsrevisionisten/-innen und Antisemiten/-innen – Grund genug auf die Straße zu gehen!
Start um 11:00 Uhr am AJZ Chemnitz (Chemnitztalstraße 54)
Jährlich marschieren am 5. März, dem Jahrestag der Bombardierung von Chemnitz 1945, mehrere hundert Neonazis auf. Dies wird zum Anlass genommen einen städtischen Ausnahmezustand sowie einen zivilgesellschaftlichen Aufstand auszurufen. Eine Stadt mit dem Wunsch, neben der Universität und der Beherbergung der ältesten Bewohner_innenschaft Europas, Technikcampus-Firmen und Fachkräfte anzulocken, benötigt ein weltoffenes, friedliches und tolerantes Image. Ganz im Sinne moderner Bürgerlichkeit schreiten Demokratiebewegte jedes Jahr gegen Nazis und für Frieden ein. Leider normal ist dabei das Zusammenspiel von sogenannter Zivilgesellschaft, die die Stadt im antifaschistischen Massenspektakel verteidigen wollen, und städtischer Verwaltung und Polizei, die darum bemüht sind alles in geordnete Bahnen zu lenken.
Die geschätzten Kolleg_innen der Chemnitzer Wachtmeisterei waren immer vor Ort, um dafür zu sorgen, dass neben zivilgesellschaftlich-kommunalen Unmutsbekundungen ein reibungsloser Ablauf der Nazi-Aktionen möglich ist. Gegen einen Großteil derer, die dem neonazistischen Gedenken etwas entgegenzusetzen versuchten, steigerte sich von Jahr zu Jahr der Repressionsdruck. Die Chemnitzer Bereitschaftspolizei fiel dabei wiederholt wegen ihres aggressiven oder schlicht vorzivilisatorischen Verhaltens auf. Das Bild vom Gruppenführer, der seine abgerichteten und wild gewordenen Beamten gerade noch unter Kontrolle hat, ist ein bekanntes Motiv.
Am 5. März 2011 gilt es zu intervenieren, um den Frieden im Rahmen des Gedenkens sowie die Ordnung im Umgang mit Neonazis in der Stadt aufzukündigen!
Geordnete Verhältnisse
Vor vier Jahren fingen die Repressalien mit einen eingezogenen Transparent und ein paar mahnenden Worten fast unbemerkt an. Bereits 2008 sah die Polizei das hauptsächliche Gefahrenpotenzial in den Gegendemonstrant_innen und sorgte dafür, dass 150 Nazis ungehindert durch Bernsdorf ziehen konnten. Mehrere Gegendemonstrant_innen wurden bei Angriffen von außer Kontrolle geratener Nazis und Polizist_innen zum Teil schwer verletzt. Ein Jahr später durften mehr als 200 Nazis mit Gestattung von Stadt und Polizei direkt vor das alternative Wohn- und Kulturprojekt Reitbahnstraße 84 ziehen. Das Projekt war bis dahin bereits mehrfach Ziel von Naziangriffen inklusive eines Brandanschlages gewesen. Die Polizei hatte das Gebäude dazu bereits in den Morgenstunden umstellt und eskalierte die Lage nach Abzug der Nazis, um auf Gegenwehr mit Beschimpfungen und brutalen Übergriffen zu reagieren. Die Aktionen der Beamten richteten sich an diesem Tag wiederholt gegen jene, die gegen die Nazis protestierten oder zumindest potentiell so eingestuft wurden.
Martin Kohlmann (Fraktionsvorsitzender Pro Chemnitz früher REP/DSU), der bis dahin die neonazistischen Trauereien angemeldet hatte, zog 2010 seine Anmeldung zugunsten der NPD zurück. Nicht zuletzt das Konzept von Polizei und Verwaltung ermöglichten den etwa 600 anwesenden Nazis ihre Demonstration “Die Opfer waren unsere Familien“, während mehr als 1500 Bürger_innen des Bündnisses „Chemnitz Nazifrei“ abseits der Strecke blockierten. Diese Bürger_innen waren nicht als Feinde der städtischen Ordnung ausgemacht worden im Gegensatz zum ehemaligen Wohn- und Kulturprojekt Reitbahnstraße 84: Es erhielt über mehrere Stunden hinweg Ein- und Ausgangskontrollen für Hausbewohner_innen und Passant_innen. Eine genehmigte Antifa-Demonstration „Das Tränenmeer trocken legen! Wider den Chemnitzer Totenkult“ vom Bahnhof in die Innenstadt wurde polizeilich unterbunden. Die erzwungene Kundgebung musste schließlich als Hauptargument herhalten, die Nazi-Demonstration nicht in die Innenstadt laufen zu lassen. Ein Bus mit Antifaschist_innen aus Dresden wurde von vermummten und behelmten Einheiten überfallen. Während dessen konnte die ordentliche Zivilgesellschaft ihren Platz in der von Stadt und Polizei geplanten Szenerie einnehmen und anständig symbolischen Widerstand leisten, ohne die Ordnung an diesen Tag zu gefährden.
Zur gleichen Zeit forderten die Nazis im gewohnt revisionistisch-nationalistischen Ton ihr „Recht auf Trauer“ ohne größere Störungen ein. Vor dem Aufzug wurde die Polizei in ihrer dort spärlich anwesenden Besetzung darauf hingewiesen, dass die marschwilligen Heulsusen ihr „Recht auf Selbstverteidigung“ wahrnehmen würden, falls die Demonstration nicht wie geplant ablaufen könne. Eine Reaktion der Einsatzleitung folgte nicht.
Das Nazigedenken hat neben der Leugnung der Kriegsschuld und Verbreitung nationalsozialistischer Propaganda vor allem eine wichtige Funktion nach innen. Hier kommen die unterschiedlichen Fraktionen der Chemnitzer Nazis und deren subkulturelles Umfeld zusammen. Grundlage dafür ist die nach wie vor große Bedeutung der Stadt als Zentrum einer überregional agierenden Nazi-Infrastruktur. Dazu zählen die Läden und Vertriebe neonazistischer Subkultur wie Backstreetnoise, Waffen-Army-Shoes und Rascal sowie mit PC-Records eines der größten Nazimusiklabels mit internationaler Anbindung in der Bundesrepublik. Diese wird weiter ausgebaut: Wie vom Leiter der NPD-Landesorganisation und der Nazi-Demonstration 2010, Maik Scheffler, angekündigt, wird zur Zeit ein „nationales Bildungszentrum“ der NPD in der Markersdorfer Straße 40 eingerichtet. Gekauft wurde die Immobilie von Yves Rahmel, dem Betreiber von PC Records und Großsponsor der rechten Szene. Damit verbessert Chemnitz ein weiteres Mal seinen Standortfaktor als nachhaltiger Produzent für Nazi-Ideologie und -Lifestyle.
Das Tränenmeer ist noch lange nicht trocken gelegt!
Doch selbst den Nazis fällt es anhand der Chemnitzer Geschichte als eines der Zentren der Industrieproduktion im Dritten Reich schwer, von einer „unschuldigen Stadt“ zu berichten. Die Lügengeschichten über Opferzahlen halten sich daher in Grenzen und bis 2009 mussten getötete Kinder für die zurechtgebombte Opferidentität herhalten. Der letztjährige Aufruf brachte dann nur noch die angebliche Friedenssehnsucht der bombardierten Chemnitzer Bevölkerung im Frühjahr 1945 zum Ausdruck.
Für die Chemnitzer Gedenklandschaft ist es allgemein schwer, vor dem lodernden Feuer am Trauerhorizont (Dresden) die kaum relevanten Bombentoten im Opfer-Diskurs „würdig“ zu platzieren. Der bürgerliche Gedenkrevisionismus wird hier im Gewand des Mahnens für den Frieden zelebriert. Vereint stehen die Kräfte der Zivilgesellschaft halbwegs arrangiert zusammen, behandeln – wenn überhaupt – die Shoah als Nebenschauplatz des Dritten Reiches und setzen alle Kriege in eine jegliche Hintergründe ausklammernde Reihe, um nach der Niederschlagung des Nazi-Faschismus „Nie wieder Krieg“ statt „Nie wieder Deutschland!“ zu fordern. Jede Kritik an dieser Praxis oder ein Verweis auf die Notwendigkeit der alliierten Militärschläge gegen die formierte deutsche Volksgemeinschaft prallt ab an der identitären Friedensmauer und Zuversicht, doch immer auf der Seite des Guten gestanden zu haben und auch heute das Gute zu wollen.
In den lokalen Medien und bei der Gedenkmatinee wird an die alte Zeiten erinnert, als alles noch gut war (und es noch einen Führer
gab), die alten Kellergeschichten werden ausgegraben, hart getroffene Zeitzeug_innen erzählen von kurz nach früher bis jetzt und ein Stück weit wird im Kampf für Frieden und Ordnung die alte Durchhaltegesellschaft des Krieges rekonstruiert, deren Solidarität nur im „Ausnahmewinter“ zum Greifen nah erscheint.
Und wie jedes Jahr, ist traurig aber wahr: Der Bürgermeister von Hiroshima ist auch wieder nicht da, um Trost und Selbstbestätigung zu spenden.
Friedliche Standordnung
Der Ruf nach Frieden ist auch ein Ruf nach Ordnung und nach stabilen gesellschaftlichen Verhältnissen. So soll zur Herstellung des städtischen Friedens alles Störende, wie am 5. März eben auch Nazis, aus dem öffentlichen Leben und damit dem Blickfeld der Stadtgemeinschaft getilgt werden – in Chemnitz auch gern polizeiverordnet. Nazis stellen hierbei nur einen Tross nützlicher Idioten dar, derer sich parallel zu allen anderen gesellschaftspolitischen Störfaktoren zu entledigen versucht wird.
Verwaltung und Polizei stecken das Terrain ab, die institutionalisierte Zivilgesellschaft ordnet ihren Frieden gegen alle, welche nicht nach dem offiziellen Flötenspiel der Stadt tanzen. Insofern wird auch gern abseits des 5. März und ohne jegliche Auseinandersetzung Frieden im Diskurs eingepflegt. Gegen alles andere gibt es Verordnungen und die Polizei mit entsprechend umfangreichen Handlungsfreiheiten. So kann das geliebte Chemnitz gegen Nazis stehen und sich gleichzeitig im multikulturalistischen Rassismus versichern, während es Thilo Sarrazin und die naturgemäße Einrichtung der Gesellschaft beklatscht.
Von jenen kann sich dann jede_r aussuchen, weswegen sie wohl am „Stadtfest 5. März“ teilnehmen, ob nun Nazis einfach nur gewalttätig auftreten, das Bomben-Gedenken stören oder schlecht für das Image von Chemnitz sind. Alle dürfen ihr Fähnchen mitbringen, wenn zur Hatz auf die gesellschaftliche Unordnung geblasen wird. Welch gutes Gefühl muss es sein, sich im Kampf für „das Gute“ wieder zusammen zu finden. Diese Gemeinschaft braucht Nazis so wenig wie einen Sinn für Demokratie, sie arrangiert sich wieder und wieder zur Verteidigung ihrer idealisierten Ordnung. Die gegebene begreift sie dabei nicht.
Meine kleine Schwester macht Randale in der Stadt1
Für den 5. März 2011 planen die Nazis nun erneut eine Demonstration, diesmal unter dem Motto „Würdiges Gedenken statt Relativierung!“. Da der Termin dieses Jahr auf einen Samstag fällt, ist mit einer ähnlich hohen Teilnehmerzahl zu rechnen. Der Naziaufmarsch an sich ist eine Zumutung und Grund genug, dagegen vorzugehen. Für die Stadt und die Polizei wird dies wieder ein Vorwand zur Ausrufung des Ausnahmezustandes und der Repression gegen LinksEXTREMisten.
Gerade in Anbetracht der letzten Jahre ist es notwendig, mit dem aktuellen Trend zu brechen, gegen die Trauergemeinschaft der Nazis vorzugehen und die straff organisierte, geschichtsvergessene Mobilisierung für den status quo rechts liegen zu lassen. In die Feier einer städtischen Gemeinschaft mit Ordnungswahn und Standorttraum gilt es gehaltvoll zu intervenieren. Dabei werden Nazis als Teil dieser Verhältnisse nicht zu kurz kommen.