Dessau 12.06.2010 Gedenkdemo für Adriano

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Am 12.​06.​2010 fin­det in Des­sau eine Ge­denk­de­mons­tra­ti­on an­läss­lich des zehn­ten Jah­res­ta­ges der Er­mor­dung Al­ber­to Adria­no durch drei Nazis statt. Treff­punkt ist um 13:00 am Haupt­bahn­hof. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen gibt es unter http:// ​afa06.​blogsport.​de/​adiano-gedenkdemo/​.

Auf­ruf


Der Mord

Es ist die Nacht auf Pfingst­sonn­tag, den 11. Juni im Jahr 2000. Zwei 16-​jäh­ri­ge Neo­na­zis aus Wol­fen ver­pas­sen ihren Zug und ler­nen einen 24-​jäh­ri­gen Neo­na­zi aus Bad Lie­ben­wer­da ken­nen, der eben­falls sei­nen Zug ver­passt hatte. Ge­mein­sam be­schlie­ßen die drei An­ge­trun­ke­nen grö­lend durch die Stadt zu zie­hen. Dabei schrei­en sie Pa­ro­len wie „hier mar­schiert der na­tio­na­le Wi­der­stand“, „Sieg Heil!“ und der­glei­chen durch die fast men­schen­lee­ren Stra­ßen in Des­sau (Sach­sen-​An­halt).
Wenig spä­ter, gegen 1:45 Uhr tref­fen sie auf ihr Opfer, den ge­bür­ti­gen Mo­sam­bi­ka­ner Al­ber­to Adria­no. Für die drei Neo­na­zis da­mals Grund genug die­sen zu be­schimp­fen und zu schla­gen. Als Adria­no zu Boden geht, tre­ten die Täter – einer von ihnen mit Stahl­kap­pen­schu­hen – mi­nu­ten­lang, vor­wie­gend auf sei­nen Kopf ein. Selbst als sich Adria­no nicht mehr regt, las­sen sie nur kurz von ihm ab. Sie keh­ren zu ihrem Opfer zu­rück, steh­len ihm seine Arm­band­uhr, tre­ten wie­der mi­nu­ten­lang unter ras­sis­ti­schen Be­schimp­fun­gen wie „du Ne­ger­schwein!“ auf ihn ein und ent­klei­den den be­wusst­lo­sen Mann.
Da An­woh­ner die Po­li­zei alar­mie­ren, kön­nen die drei Neo­na­zis wenig spä­ter fest­ge­nom­men wer­den. Noch in der glei­chen Nacht kom­men alle drei in Un­ter­su­chungs­haft.
Al­ber­to Adria­no wird am 14. Juni 2000 auf­grund sei­ner schwe­ren Kopf­ver­let­zun­gen für hirn­tot er­klärt. Der Flei­scher, der mit Un­ter­bre­chun­gen seit 1980 in Deutsch­land lebte, hin­ter­lässt eine Frau und drei Kin­der.
Als die Tat be­kannt wird, mo­bi­li­sie­ren An­ti­fa und das „Bünd­nis gegen Rechts­ex­tre­mis­mus“ (BgR) zu einem ge­mein­sa­men Trau­er­marsch. Fünf Tage nach der Tat und zwei Tage nach Be­kannt­wer­den des Todes von Al­ber­to fol­gen dem Auf­ruf ca. 5000 Men­schen. Im An­schluss brin­gen weit mehr als 1000 An­ti­fa­schis­t_in­nen in einer kraft­vol­len De­mons­tra­ti­on ihre Wut zum Aus­druck.

10 Wo­chen nach dem Mord be­gann am 22. Au­gust 2000 in Halle der Pro­zess gegen die 3 Mör­der Adria­nos. Am 30. Au­gust 2000 wer­den alle drei Täter wegen ge­mein­schaft­li­chem Mord ver­ur­teilt. Die bei­den 16-​jäh­ri­gen Frank Mie­th­bau­er und Chris­ti­an Rich­ter er­hal­ten Haft­stra­fen von 9 Jah­ren, der 24-​jäh­ri­ge En­ri­co Hilprecht er­hält eine le­bens­lan­ge Frei­heits­stra­fe. Alle 3 gaben als Motiv für den Mord an Al­ber­to Adria­no „Frem­den­hass“ an.

10 Jahre spä­ter…

10 Jahre nach dem Mord an Al­ber­to Adria­no hat sich nicht viel ge­än­dert. Mi­gran­t_in­nen, An­ti­fa­schis­t_in­nen, Ho­mo­se­xu­el­le, Ob­dach­lo­se und An­ders­den­ken­de sehen sich immer noch An­grif­fen durch Neo­na­zis und Ras­sis­ten aus­ge­setzt. In einem ge­sell­schaft­li­chen Klima be­ste­hend aus All­tags­ras­sis­mus, An­ti­se­mi­tis­mus und Ho­mo­pho­bie, staat­lich be­trie­be­ner „Aus­län­der­po­li­tik“ (die nichts an­de­res als in­sti­tu­tio­nel­ler Ras­sis­mus ist), zwingt man Mi­gran­t_in­nen dazu, unter ka­ta­stro­pha­len Le­bens­be­din­gun­gen in La­gern zu woh­nen. So wer­den sie in die stän­di­ge Angst der Ab­schie­bung in ihre ver­meint­li­chen „Her­kunfts­län­der“ ver­setzt, es wer­den Ar­beits­ver­bo­te sowie Re­si­denz­pflicht ver­hängt und damit die so­wie­so schon mehr als pre­kä­re Le­bens­si­tua­ti­on noch mehr ver­schlech­tert, statt es ihnen mög­lich zu ma­chen, ihre Le­bens­be­din­gun­gen selbst be­stim­men zu kön­nen. Dazu kom­men stän­di­ge Schi­ka­nen durch Aus­län­der­be­hör­den oder ras­sis­ti­sche Po­li­zei­kon­trol­len.
Die me­dia­le Be­richt­er­stat­tung tut ihr Üb­ri­ges. Durch Mel­dun­gen von „Tür­ken­ban­den“, „Dro­gen dea­len­den Schwarz­afri­ka­nern“ oder „Tä­tern mit ost­eu­ro­päi­schem Ak­zent“ wer­den die in der deut­schen Mehr­heits­ge­sell­schaft vor­han­de­nen, ras­sis­ti­schen Vor­ur­tei­le wei­ter ge­schürt und so der Weg für wei­te­re Re­pres­sio­nen gegen Flücht­lin­ge ge­eb­net.

Des­sau­er Zu­stän­de – Oury Jal­loh und an­de­re Po­li­zei­skan­da­le

Am 7. Ja­nu­ar 2005, also vier­ein­halb Jahre nach dem Mord an Al­ber­to Adria­no, wird der 36-​jäh­ri­ge Oury Jal­loh von der Des­sau­er Po­li­zei in “Schutz­haft” ge­nom­men. Der Asyl­be­wer­ber aus Si­er­ra Leone wird in einer Ge­wahr­sam­szel­le an Hän­den und Füßen „fi­xiert”. Nach­dem in der Zelle ein Brand aus­bricht, kön­nen an­rü­cken­de Ret­tungs­kräf­te nur noch Ourys Tod fest­stel­len.
Nach of­fi­zi­el­ler Dar­stel­lung soll der me­di­ka­men­tös ru­hig­ge­stell­te und fi­xier­te Jal­loh seine feu­er­fes­te Ma­trat­ze selbst be­schä­digt und an­ge­zün­det haben. Das nö­ti­ge Feu­er­zeug hätte einer der ein­ge­setz­ten Be­am­ten, Hans-​Ul­rich M. (42) bei der vor­ge­schrie­be­nen Durch­su­chung über­se­hen. Ein an­de­rer Be­am­ter, An­dre­as Sch. (44), soll mehr­fach den Feu­er­alarm igno­riert und die Ge­gen­sprech­an­la­ge ab­ge­schal­tet haben. Als dann doch re­agiert wurde, wäre Jal­loh nicht mehr zu ret­ten ge­we­sen. Er sei an einem Hit­ze­schock ge­stor­ben.
Bei vie­len Men­schen herrsch(t)en er­heb­li­che Zwei­fel an die­ser Ver­si­on. Im­mer­hin gab es im Herbst 2002 schon ein­mal einen To­des­fall im Po­li­zei­re­vier Des­sau. Da­mals war der be­trun­ke­ne, 36-​jäh­ri­ge Mario B. in einem Park aus­ge­raubt und schwer zu­sam­men­ge­schla­gen wor­den. Der Mann starb ein paar Stun­den spä­ter in Po­li­zei­ge­wahr­sam an den Fol­gen eines Schä­del­bruchs. So­wohl der Arzt An­dre­as B. als auch der dienst­ha­ben­de Po­li­zei­be­am­te, die sich für die Ge­wahr­sam­szel­le statt für eine Ein­wei­sung ins Kli­ni­kum ent­schie­den hat­ten, sind auch am „Fall Jal­loh“ be­tei­ligt.
Ver­schie­de­ne Ak­teu­re wie die „In­itia­ti­ve Oury Jal­loh“ the­ma­ti­sie­ren den un­ge­klär­ten Tod Jal­lohs immer wie­der. Deut­sche und in­ter­na­tio­na­le Me­di­en grei­fen dies auf. Trotz­dem dau­ert es mehr als zwei Jahre, bis am 27.​03.​2007 vor dem Land­ge­richt Des­sau der Pro­zess gegen den da­ma­li­gen Dienst­grup­pen­lei­ter An­dre­as Sch. wegen Kör­per­ver­let­zung mit To­des­fol­ge und einen wei­te­ren Des­sau­er Po­li­zis­ten wegen fahr­läs­si­ger Tö­tung (Feu­er­zeug) er­öff­net wird.
Der von Wi­der­sprü­chen ge­präg­te Pro­zess wird fast zwei Jahre und 59 Pro­zess­ta­ge dau­ern. Am 8. De­zember 2008 wird der Vor­sit­zen­de Rich­ter Man­fred Stein­hoff sagen: “Das Ge­richt hätte trotz in­ten­si­ver Be­mü­hun­gen den Fall nicht auf­klä­ren kön­nen”. Und wei­ter: „Das Ganze hat mit Rechts­staat nichts mehr zu tun.“ Die bei­den An­ge­klag­ten wer­den frei­ge­spro­chen.
Am 7. Ja­nu­ar 2010, dem fünf­ten To­des­tag von Jal­loh ent­schei­det der Bun­des­ge­richts­hof, dass der Fall vor dem Mag­d­e­bur­ger Land­ge­richt neu ver­han­delt wer­den muss, da bei der Des­sau­er Po­li­zei man­geln­de Auf­klä­rungs­be­reit­schaft vor­lie­ge.
In der Zwi­schen­zeit be­kom­men Jal­lohs Freun­de in Des­sau die Dank­bar­keit der Po­li­zei zu spü­ren. So drin­gen Po­li­zei­be­am­te mitte De­zember letz­ten Jah­res ohne Durch­su­chungs­be­fehl in das „Tel­e­café“ von Mouc­tah Bah in der Des­sau­er In­nen­stadt ein. Sie durch­su­chen vier Stun­den lang alle An­we­sen­den, dar­un­ter ein Klein­kind. Die Be­trof­fe­nen müs­sen sich be­lei­di­gen las­sen und teil­wei­se sogar ent­klei­den. Drei Tage zuvor hatte Bah die Carl-​von-​Os­siets­ky-​Me­dail­le be­kom­men – für sein En­ga­ge­ment zur Auf­klä­rung des Todes von Jal­loh.
Wie weit der Korps­geist bei der Des­sau­er Po­li­zei geht, zeig­te sich auch, als im Mai 2007 drei Staats­schutz­be­am­te, dar­un­ter der Lei­ter des Kom­mis­sa­ri­ats, in an­de­re Auf­ga­ben­be­rei­che ver­setzt wur­den. Sie hat­ten sich gegen einen Vor­ge­setz­ten ge­wehrt. Der da­ma­li­ge lei­ten­de Po­li­zei­di­rek­tor, Hans-​Chris­toph Glom­bitza, soll auf stei­gen­de Fall­zah­len im Be­reich rechts­mo­ti­vier­ter Kri­mi­na­li­tät re­agiert haben, indem er ihnen na­he­leg­te, man müsse „nicht alles sehen.“ Dass Glom­bitza dann noch das An­ti-​Rechts-​Lan­des­pro­gramm „Hin­gu­cken“ als „nur für die Ga­le­rie“ be­ti­tel­te, er­scheint bei die­sen Zu­stän­den fast als Trep­pen­witz der Pro­vinz­ge­schich­te.

Nazis ver­bie­ten? An­ti­fa statt Ver­bo­te!

Immer wie­der wird nach rechts­mo­ti­vier­ten An­grif­fen der Ruf nach här­te­ren Stra­fen oder Ver­bo­ten neo­na­zis­ti­scher Or­ga­ni­sa­tio­nen, wie bspw. der NPD laut. Doch es ist nicht damit getan, Nazis in Knäs­te zu sper­ren oder sie zu ver­bie­ten. Knäs­te, sowie an­de­re For­men von Zwangs­an­stal­ten die­nen nur der ver­meint­li­chen „Re­so­zia­li­sie­rung“, Iso­la­ti­on und Ver­drän­gung ge­samt­ge­sell­schaft­li­cher Pro­ble­me. Eine be­frei­te Ge­sell­schaft braucht keine Knäs­te.
In­zwi­schen sind zwei der drei Mör­der Adria­nos wie­der frei und gehen ihrem „nor­ma­len“ All­tag nach. Sie haben sich bis heute nicht von ihrer Tat oder der Na­zi­sze­ne dis­tan­ziert. Der drit­te Mör­der, En­ri­co Hilprecht, kann ge­ra­de­zu als Pa­ra­de­bei­spiel für das Schei­tern des Kon­zep­tes Knast nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“ gel­ten. Er gibt aus der Haft in Bran­den­burg/Havel das Neo­na­zi-​Knast­fan­zine „JVA-​Re­port“ her­aus. Das in Zu­sam­men­ar­beit mit „Ka­me­ra­den“ aus meh­re­ren Bun­des­län­dern pro­du­zier­te Heft ver­öf­fent­licht re­gel­mä­ßig „Haft­be­rich­te“ an­de­rer in­haf­tier­ter Neo­na­zis aus der BRD und an­de­ren Län­dern, sowie die je­weils ak­tu­el­le „Ge­fan­ge­nen­lis­te“ der „Hilfs­ge­mein­schaft für na­tio­na­le Ge­fan­ge­ne“ (HNG).
Was es braucht, sind also zu­al­ler­erst nicht staat­li­che, re­pres­si­ve Maß­nah­men, son­dern eine scho­nungs­lo­se Ana­ly­se der ge­sell­schaft­li­chen Zu­stän­de und einen dar­auf auf­bau­en­den, of­fen­si­ven Um­gang damit. Denn so­lan­ge an­ti­se­mi­ti­sche, ras­sis­ti­sche, xen­o­pho­be und se­xis­ti­sche, kurz men­schen­ver­ach­ten­de Denk­mus­ter tief in der Mitte der Ge­sell­schaft ver­an­kert sind, bie­ten sich immer wie­der An­knüp­fungs­punk­te für alte und „neue“ Nazis.
Aus an­ti­fa­schis­ti­scher Sicht ist es daher not­wen­dig, nicht nur Nazis und ihre Sym­pa­thi­san­ten zu be­kämp­fen, son­dern auch ihren Nähr­bo­den auf­zu­zei­gen und an­zu­grei­fen. Wenn heute mit Hilfe des „Ex­tre­mis­mus“-​Be­grif­fes an­ti­fa­schis­ti­sche Sitz­blo­cka­den in die selbe Schub­la­de ge­packt wer­den wie ras­sis­ti­sche Hetz­ti­ra­den und wenn die „Ver­ei­ni­gung der Ver­folg­ten des Na­zi­re­gimes – Bund der An­ti­fa­schis­t_in­nen“ (VVN – BdA) vom sel­ben „Ver­fas­sungs­schutz“ be­ob­ach­tet wird wie Nazis, die den Ho­lo­caust leug­nen oder gar ver­herr­li­chen, zeigt das, wie weit die deut­sche Ge­sell­schaft von einem ehr­li­chen Um­gang mit sich selbst ent­fernt ist.

An­ge­sichts der Ver­hält­nis­se ist kla­rer denn je:
Wir haben kei­nen Bock dar­auf, diese Zu­stän­de schwei­gend hin­zu­neh­men.
Wir wol­len dem ras­sis­ti­schen All­tag dort ent­ge­gen tre­ten, wo er täg­lich spür­ba­re Rea­li­tät ist: auf den Stra­ßen, in den Schu­len, Äm­tern, der Po­li­zei, eben in die­ser Ge­sell­schaft.
Des­we­gen rufen wir zu einer bun­des­wei­ten, an­ti­fa­schis­ti­schen De­mons­tra­ti­on in Ge­den­ken an Al­ber­to Adria­no und alle an­de­ren Opfer ras­sis­ti­scher Ge­walt auf.
Lasst uns ein deut­li­ches Zei­chen set­zen
gegen Ras­sis­mus,
gegen jeden „Ex­tre­mis­mus“-​Be­griff,
gegen den rech­ten Grund­kon­sens,
gegen Na­zi­struk­tu­ren,
und für ein kon­se­quen­tes an­ti­fa­schis­ti­sches Han­deln in Des­sau und an­ders­wo!
Denn An­ti­fa­schis­mus ist nicht kri­mi­nell son­dern not­wen­dig!

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