Treibt mensch sich dieser Tage in den Straßen der Republik umher, künden Eindeutigkeiten von einem sportlichen Großereignis, in welchem die patriotische Masse derzeit dahinwogt. Neben car-flags, Fenster-, Balkon- und Schrebergarten-flags kommt mensch nicht umhin, ein monotones Dröhnen wahrzunehmen, welches auch durch die zugigen Alleen von Chemnitz hallt. Als Gimmik von Brauereien oder Sonderangebot örtlicher Discounter werden die nach offener, ungezwungener Bezugnahme Heischenden mit einer nationalfarbenen Plastiktröte von einem halben Meter Länge ausgestattet, um die deutsche Emotion schon einmal besonders einfallsreich herausposaunen zu können.
Das Geräusch der Tröte ähnelt dem Ton bei Hirschwettröhr-Festspielen unter der Verwendung von Gießkannen. Näher noch am entfalteten Monoton scheint der Vergleich mit dem Horn. Mensch erinnere sich an den Kanon, welcher wohl fest in deutsche Bildungspläne integriert ist und bei welchem immer die sangesunbegabteste Person die Funktion des Horns übernahm.
Eben dieser Ton dröhnte bereits im Jahre 9 n. Chr. durch zentraleuropäisches Unterholz. Auf den Bäumen und in sumpfigem Gestrüpp bereiteten sich die germanischen Stämme unter Arminius in ihren Streitfellen auf die Ankunft der Römer vor. Während es durchaus auf heute staatsdeutschem Gebiet Tendenzen gab, sich mit den Römern zu arrangieren, brachten sie doch nicht nur Krieg und Legionsadler sondern auch befestigte Straßen, Siedlungen und einiges mehr an Zivilisation mit, als dass die Marser, Chatten, Brukterer und Cherusker sich unbedingt weiter mit struppigem Haar und Wolfszähnen um den Hals gegen die Lebensart im römischen Einflussgebiet zu Wehr setzen wollten. Dafür war nun Arminius zuständig, welcher in eigenem Machtbestreben, ausgebildet und dienend im Herr der Römer, danach trachtete, diesen den teutschen Dolchstoß zu versetzen, den Cocon germanischen Wald- und Wiesentums um die zerstrittenen Stämme in der Gegend zu schmieden und diese wieder weiter ins Dickicht deutscher Fortschrittsangst zurückzutreiben. Dieser Arminius, heute besser bekannt als Herrrrrmann, scheinbar kampftauglicher als sein beleibter Namensvetter in jüngeren Tagen, bekannt mit römerischer Kriegstechnik, führte derer drei Legionen nun in den Hinterhalt, um sie dahin zu meucheln, während diese sich noch mit ihm verbündet wähnten.
Die Niederlage Varus war nun weniger ein Zeichen für die Verbündung diverser Barbaren zu Deutschen und auch nicht der Grundstein für deutsche Nationenwerdung an sich, hat sie doch weit weniger Relevanz beim weiteren Fortgang der Geschichte als sich die nationale Darstellung seit dem 19. Jh. so gern wünschen würde.
Trotz allem ist sie ein Beispiel, wie das Deutsche sich, geschart um Mythen und Symbole, als solches manifestiert, wurde doch das Reich 1871 in ähnlicher Abfolge gegründet und abermals: „Die deutsche Nationalität, Die siegte in diesem Drecke.“ (Heine). Die Gründung auf blutigem Boden, eine der wichtigen nationalen Traditionen. Die gänzliche Auslöschung der französischen Truppen unterließ mensch wahrscheinlich eher aufgrund der Notwendigkeit, der Pariser Commune etwas entgegen setzen zu müssen. Bekanntlich siegten die Besiegten dort, während der Sieg über sie im Spiegelsaal von Versailles mit der Gründung der deutschen Nation zelebriert wurde.
Von der Aufklärung hochgeschreckt, versuchte der deutsche Michel an der Moderne teilzuhaben und die Seinen zu vereinen. Leider konnte er auf keinerlei emanzipatorisches Potential zurückgreifen und bediente sich nun für diese Einigung einer biologistischen Rhethorik, ein Ensemble aus der Taufe zu heben, welches Kultur und Fortschritt im eigenen Blutbild wähnte und Emanzipation nicht als Chance für die Freiheit des Individuums sondern als gewaltsame Verschleierung dessen in der deutschen Biomasse begriff. Bereits von Beginn an hatte sich dieser Köper „Volk“ nun zu stählen, um auf Angriffe jeglicher Zivilisation vorbereitet zu sein. Vom antisemitischen „Turnvater“ war es also nur ein kurzer Schritt zur Volksgesundheit. Im darauf gerichteten Streben wurde der größte Teil der als anders und damit gefährlich für die Rein- und damit Gesunderhaltung Imaginierten gewaltförmig aus der konstruierten Ingroup entfernt. Trotz allem ließ sich mensch aber auch auf den sportlichen Wettstreit ein.
Heuer, da es nicht mehr schicklich scheint, den „Anderen“ und „Fremden“ unter physischer Bedrohung zu begegen, verlegt sich die Inszenierung der Nation vor allem auf den spielerischen Wettstreit. Gerade aus dieser Friedlichkeit heraus wird der Schlussstrich immer lärmender posaunt. Die neue, geläuterte Nation, das friedliebende und aktiv friedensstiftende Deutschland agiert sich aus und drängt nach Geltung. Und wieder kann die Konstruktion der Nation nur mit einem Ausschluss der „Anderen“ einher gehen, welcher in zweierlei Hinsicht qua Herkunft funktioniert. Wird den Einen die richtige Herkunft unter Hinweis auf die falsche Blutlinie (lies: Kultur) aberkannt, haben die ewigen Mahner und Skeptiker deutscher Nationalkonstrukte eben nicht die notwendig richtige politische Herkunft (lies: Kultur). Ganz klar werden auch jene aus diesem Grunde offen ausgegrenzt, welche in einer zu positiven Bezugnahme auf das Deutsche, das gewünschte Bild des zivilisierten, modernisierten Deutschland stören. Die vorgestellten Abgrenzungsmerkmale sind weniger deutlich als gewünscht und die Grenzen damit eher fließend. Das Konstrukt ähnelt damit einer ebenfalls zur Ordnung der chaotischen Moderne aufgestellten „Mitte der Gesellschaft“.
Üben konnte mensch das vereinte Zuschauen – was als eigentliche deutsche Tugend mehr Beachtung verdiente – schon mal beim Eurovision Songcontest. Der Schlager scheint ebenfalls ein Element, die Deutschen zu einigen und die Rückschau zu versüßen. So spiegelt sich das Sein der Nation und ihrer Teile in der kleinen Abiturientin mit der gewaltigen Stimme, die sie erhebt, um internationales Gehör zu finden. Scheinbar fand sie dies und das neue Deutschland wurde ohne ein bisschen Frieden oder Freiheit Siegernation. Ein lustig-dreifarben Blumenkettchen ins Haar des Mädchens, paternalistisch protegiert vom Stefan Raab, gelobt von und vor Vater Staat.
Während also an den Straßenlaternen bereits die neue NPD-Kampagne „Weltmeister der Herzen“ gestickert wird, wärmt sich das Herz des Volkes in Vorfreude auf da Kommendes an einer jungen Schönen, die auch noch schön singt. Reinheit sucht das nationale Epos! Fairness erwartet es und unfair ist alles, was nicht zum Gelingen des nationalen Projektes beiträgt. Die Inbrunst mit welcher auf den Fußballer Kevin-Prince Boateng – glücklicherweise nur verbal drohgebärdend – eingedroschen wird, zeigt, wie schnell die Nation stellvertretend für das Individuum verletzt ist. Dass Ballack nicht mit zur WM fahren kann, davon zwar weder diese, noch die Durchführung von Spielen an sich gefährdet , sondern nur der nationale Siegestaumel in Frage gestellt ist, zeigt, um wieviel Sport es den Sportlichen eigentlich geht. Trotz der scheinbaren „Auge um Auge“-Argumentation sei erwähnt, dass die Nation wie immer aus gutem Grund vorerst auch vergisst, wer eigentlich die unfairen Attacken begonnen hat – in jenem Spiel wurde Ballack handgreiflich. Mensch bläst hingegen zur Hatz auf den Anderen – den Unfairen, Unzivilisierten – in der angsterfüllten Einsicht, sich in der Zuschreibung zum „Anderen“ selbst zu erkennen, hoffend dieses ungeliebte Selbst dort bekämpfen zu können.
By the way wird die Darstellung Ballacks als Überfußballer keineswegs überall, auch nicht von neutralen Beobachtern, geteilt. Ballack als alles überragend zu empfinden ähnelt eher dem Phänomen, aufgrund dessen die Verantwortlichen die Challenger zum letzten Start zuließen. Aber was wer auf dem dem Sockel – Ball oder Schwert im Gepäck – eigentlich konnte, wollte, war etc., verschwindet seit je her hinter seiner/ihrer selbst als Symbol im Mythos.
Weniger gewichtig, dafür massenhaft verbeitet sind die neuen Symbole. Und unter den nicht vom Flaggen und Hornblasen müde Werdenden arrangieren sich jene, die auf die Volksparty warten und dabei aber nur wenig Abgrenzung betreiben zu denen, welchen sich das Herz nur dann mit Wärme füllt, wenn sie brandschatzend den „Anderen“ die deutsche Nation darstellen. Und so sieht mensch vier Nazis in einem Renault 106 mit vier Carflags auf der Suche nach volkschädigendem Verhalten.
Hiervor warnt der deutsche Whistleblower. Hier steckt die Gefahr. Bunt und sichtbar ist ungewollt, denn die Nation ist bunt, bunt genug. Sie hat bunt zu sein, denn sie ist freiheitlich und modern, aber eben nur in den Farben der Nation. Aus diesem Grund heischt die deutsche Berichterstattung gerazu danach, Menschen anzutreffen, die neben deutscher Begeisterung auch die eine oder andere Flagge mitbringen.
Ein Projekt aber, auf welches sich Neonazis genau so positiv beziehen, wie die Mitte der Gesellschaft muss kritisch gesehen werden. Nach dem gemeinsamen Nichtfeiern zum 65. Jahrestag der Befreiung reicht sich der deutsche Fußballfanmob vom patriotischen Leistungsträger bis zum kruden Neonazi nun die Hand zum Reigen um das runde Leder. Ob mensch sich hier patriotisch oder gleich offen nationalistisch gibt, verliert seine Relevanz bereits in der Tatsache, dass alle stadtaus-landein unverkrampft feiern wollen. Wie die gegnerischen Teams dann jeweils geschmäht werden, weist mehr auf das Maß am jeweiligen sozialen Druck, dem die Betreffenden individuell verschieden ausgesetzt sind, hin, als auf eine Reflexion nationaler Verfasstheiten. Schon die Verlautbarung „wir sind wieder wer“ am Ende einer Fußballmännerweltmeisterschaft macht deutlich, dass neben dem vorgestellten „wer“, welches durchaus unterschiedlich ausgeprägt sein kann, das Problem bereits im „wir“ beginnt.
Es muss wohl zur Kenntnis genommen werden, dass die deutsche Nachkriegsnation nicht die selbe wie die deutsche Nation bis 1933 und vor allem von 1933-45 ist. Trotz allem ist das „wir“ heute, neben seiner als nationalistisches Konstrukt an sich abzulehnenden Existenz, untrennbar verwoben mit dem „wir“ der Richter, Henker und ZuschauerInnen im Nationalsozialismus. Auch wenn die Farben getauscht und Symbole entfernt oder zu einem fetteren Adler aufgebläht sind, lässt sich eben nicht leugnen, dass des Fahnenmeer das Gleiche bleibt, in welchem auch mal ein „umgangssprachlicher“ „innerer Reichsparteitag“ herausrutscht. Und in diesem lauten Ozean treiben wieder Millionen Deutscher, die schwarz-rot-gülden eingefärbt dem nationalen Ereignis zuschauen und damit doch wie eh und je die Nation erst in Szene setzen.
Der einzige positive Bezug auf diese Nation müsste hingegen die Kenntnisnahme der Tatsache ihrer Abschaffung sein. Die Gefahr, für die der Whistleblower steht, droht der Nation nur von der Erkenntnis ihrer Untatsächlichkeit. Die Aufgabe der Stunde wäre es, diese Angst zu begründen. Die doppelte Befreiung von der Nation bestünde in der Entledigung von ihren Symbolen und damit gleichzeitig in der Entsorgung ihrer Wirkmächtigkeit.
Da die Germanen vom Baum herunter in die Wohnzimmer eilen, so dass in den kommenden Wochen zumindest die Wälder, abgesehen von einigen Wehrsportgruppen, zivilisierter und damit frei vom Deutschtum sein dürften, besteht die Option, dem urbanen für einige Zeit den Rücken zu kehren, denn hier gibt es vorerst viel Nationalismus im Sonderangebot – Zivilisation ohne Emanzipation – deutsch eben, es sei denn Ghana beendet den nationalen Fußballtaumel.
Wie auch immer es ausgeht, muss sich die Schar zum Public Viewing treffen, denn wen zieht’s heute schon noch nach Südafrika, ganz ohne Expeditionscorps. Die Ironie daran ist, dass die Tröte der Fans heute vielerorts eine Vuvuzela darstellt, an deren Geräusch sich auch die Fans in den Stadien des heutigen WM-Landes aktuell erfreuen. Diese wiederum wird ganz offiziell in traditionalistischer Manier gar wild geschmäht und häufig verboten auf den Grölfesten hiesiger Gefilde, ganz so, als wäre das Horn von feinerer Akustik.